von Elisabeth Ritonja | Sep 18, 2024 | Allgemein, Theater
Das einprägsame Bühnenbild von Katrin Brack – drei runde, schwarze Scheiben, die in unterschiedlichen Schräglagen den Raum ausfüllen – wird von Wolkenformationen ergänzt, die in verschiedenen Farben, von pastellig, bis zu graubraun auf- und abgezogen werden.
Die Assoziation, dass sich hier nicht nur eine Gesellschaft auf unsicherem Terrain bewegt, sondern sich auch die Natur in ständigem Aufruhr befindet, liegt auf der Hand.
Die unaufgeregten Kostüme (Teresa Vergho) beeindrucken vor allem durch ihre strenge Farbgebung und Aussagekraft, welch emotionale Zustände ihre Träger und Trägerinnen jeweils durchleben. Gemeinsam mit dem Bühnenbild erhält so jede einzelne Szene ihre unverwechselbare optische Kraft, die in Stills umgesetzt, in jedem Modern-Art-Portal reüssieren könnte.
Sphärisch unterstützend wirkt die Live-Musik, die vom Bühnenrand aus vom Duo Vogel und Kürstner. Dem Auf- und Abbau von Spannungsmomenten wird so, wie bei gut gemachter Filmmusik, eine eigene Klangqualität unterlegt, die emotional stark beeinflusst.
Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)
Die Weisheit, dass in einem Menschen viele stecken, die auch aus der Psychologie bekannt ist, erfährt bei Henkel eine neue Dimension. Das Phänomen ist nicht zuletzt vom Krankheitsbild der DIS – der dissoziativen Identitätsstörung bekannt, bei welcher die Menschen das Leid auf mehrere intrinsische Persönlichkeiten aufteilen, um damit überhaupt umgehen zu können. Karin Henkel greift auf die Idee der multiplen Persönlichkeiten insofern zurück, als sie ihren Hamlet von gleich fünf Personen (sowohl männliche als auch weibliche) aufteilt. Sie macht damit nicht nur die Vielschichtigkeit deutlich, mit welcher dieser ausgestattet ist. Vielmehr kann man auch eine zweite Interpretationsebene einziehen: Das, was hier gezeigt wird, ist kein Einzelschicksal. Das Hadern mit dem Erlittenen, das Zaudern mit der Verteidigung von Recht und das letztliche Ausrasten im Blutrausch – all das mussten viele Menschen in ihrem Leben kennenlernen.
Neben der Entwicklung des königlichen Dramenstranges legt die Regisseurin aber auch ein beredtes Zeugnis davon ab, was ihrer Meinung zeitgenössisches Theater eigentlich ist. Und das tut sie mit Verve und Können. Wie ihr Ensemble ständig zwischen den Shakespearerollen und jenen schlüpfen, in welchen sie sich gegenseitig als Schauspielende zurechtweisen, kritisieren oder auch lächerlich machen, das macht einfach großen Spaß zuzusehen. Nach jener Szene, in welcher der Brudermörder Claudius als schon gekrönter König von der 1. Publikumsreihe aus zusieht, wie Hamlet, sein Stiefsohn ihm den Mord an seinem Vater vorspielt und sich letztlich durch seine erschrockene Reaktion verrät, darf Hamlet dem Publikum zugewandt stolz erklären: „Was das Theater nicht alles kann!“
Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)
Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)
Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)
Essenziell aber für die Inszenierung sind jene textlichen Erweiterungen, die das Tun der Personen erklärbar machen. Gertrude, Hamlets Mutter, von ihm schon bis aufs Äußerste gereizt, verliert die Contenance und sagt ihrem Sohn ins Gesicht, dass er beileibe kein Wunschkind war. Sie musste sich schlicht dem Druck beugen, einen Thronfolger zu gebären, unabhängig davon, dass sie Hamlets Vater abgrundtief verachtete.
Auch Ophelia erfährt eine erweiterte Charaktererklärung, wird sie doch als brave, gehorsame Tochter – zum Gehorsam gezwungen – dargestellt. Dass die jungen Leute bei diesen Vorbildern keine Chance haben, sich in ihrem Leben glücklich zu entwickeln, wird dabei mehr als klar.
Mit der Engländerin Kate Strong, welche seit vielen Jahren von Henkel in Shakespearerollen verpflichtet wird, blüht der Text zweisprachig – sie spricht Englisch und stellenweise einige Worte Deutsch – förmlich auf. Man meint, mit ihr jemanden auf der Bühne zu haben, der Shakespeares Diktum nicht nur im Blut hat, sondern auch ein Bindeglied hin in jene Zeit ist, als das Stück geschrieben wurde. Ob als Hamlets Mutter, Totengräber oder Erzählerin – die Frau fügt sich ins Ensemble und sticht zugleich aber auch aus ihm hervor.
Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)
Hamlet am Burgtheater (Foto: Lalo Jodlbauer)
Der Kürzung, die nicht nur die Fortinbras-Erzählung, sondern auch den blutrünstigen Schluss ereilte, der von Kate Strong in Stenografie-Manier erzählt wird, hat dieser Fassung gutgetan. Keine unnötigen Nebenstränge lenken so von der charakterlichen Entwicklung Hamlets ab, die, hat man diese Inszenierung gesehen, auch für alle weiteren im Gedächtnis bleiben wird.
Das Geisterheer, mit einfachen weißen Laken ausgestattet, bedrängt den sensiblen jungen Mann von Beginn an und lässt ihn auch bis zum Schluss nicht mehr los. Dass es in einer Szene auch im Parkett Aufstellung findet, verstärkt auch beim Publikum den Eindruck, dass man ihnen nicht entkommen kann, auch wenn man es gerne möchte.
Alexander Angeletta, Benny Claessens, Katharina Lorenz, Michael Maertens, Marie-Luise Stockinger und Tim Werths spielen Hamlets Entourage, zum Teil in Mehrfachrollen, alle in Bestform und mit offensichtlichem Spaß am Spiel. Dass Hamlets Verabschiedung „Ich bin Hamlet, ich bin tot, adieu“ nicht als humoriger letzter Satz hängen bleibt, dafür sorgt das musikalische Zitat von Didos Lament von Henry Purcell. „Remember me! Remember me!“ lautet darin der Refrain. Dass man sich an diesen Hamlet erinnern wird, ist sicher.
von Elisabeth Ritonja | Jun 11, 2024 | Allgemein, Theater
Die Rechnung
In Zusammenarbeit mit dem Volkstheater entwickelte er gemeinsam mit den Schauspielern Frank Genser und Christoph Schüchner eine Fassung, die vom Volkstheater auch noch im Herbst in verschiedenen Bezirken gezeigt werden wird. Die Ursprungsfassung, die Etchells gemeinsam mit Bertrand Lesca und Nasi Voutsas erarbeitete, wurde während des Festivals in Avignon voriges Jahr gezeigt und diente als Basis einer Stückentwicklung, die mit einem einfachen Setting beginnt. Im Laufe der Vorstellung wird diese jedoch immer ausufernder und absurder, um am Ende logisch dort zu enden, was der Titel ankündigt: bei einer Rechnung. Zwei Männer spielen eine Szene in einem Restaurant, in welchem der Ober ohne Unterlass Wein in das Glas seines Gastes gießt, sodass dieses übergeht und den Tisch überschwemmt.
„Die Rechnung“ (Foto: Nurith Wagner-Strauss)
Ein gutes Kunstwerk, egal, aus welchem Genre es stammt, erkennt man an einigen wenigen Merkmalen. Zum einen ist es formal so gestaltet, dass Publikum verschiedener gesellschaftlicher Schichten und verschiedenen Alters Gefallen daran finden können. Zum anderen bietet es nicht nur eine, sondern mehrere Interpretationsebenen an. Der letzte Punkt ist jener der Wiedererkennung. Ob in der bildenden Kunst, im Tanz, der Musik oder im Theater – eine künstlerische Handschrift so zu erarbeiten, dass sie vom Publikum rasch zugeordnet werden kann, ist jenen vorbehalten, die ihr Handwerk verstehen. Tim Etchells ist so jemand und er erfüllt alle vorangegangenen Qualitätsmerkmale mit Leichtigkeit.Es ist nicht zuletzt der herausragenden schauspielerischen Leistung von Genser und Schüchner zu verdanken, dass sich „Die Rechnung“ als eine der sehenswertesten Produktionen der Festwochen erweist. Dieses kleine Kammerspiel, aufgeführt vor einem roten Vorhang, kommt lediglich mit zwei Tischen, einigen Sesseln, sowie Besteck, Tischtüchern, einem Glas und einer Flasche aus. Und es lässt das Kopfkino rattern, dass man kaum mit dem Nach- und Vorausdenken mitkommt. Befinden wir uns in einer Endlosschleife, die sowohl unseren Alltag als auch jenen im Bühnenberuf versinnbildlicht? Werden uns auf höchst kunstvolle, zugleich aber auch einfache Art und Weise die philosophischen Denkmuster von These, Antithese und Synthese vorexerziert? Kommen wir mit der Idee zurecht, dass in 50 Jahren andere Menschen im Theater sitzen werden als wir, die wir die 50 schon überschritten haben? Oder dürfen wir uns einfach mit Freude und Genuss der fulminanten Darbietung hingeben, bei der ein Ober zum Torero mutiert oder ein Gast daran verzweifelt, dass ihm der Kellner den Wein vorenthält?
Dies und eine Reihe weiterer Fragen, aber auch Erkenntnisse, blitzen während der Vorstellung in den eigenen Gedanken auf und lassen staunen und lachen zugleich. Und wecken unglaublich Lust, die Produktion ein zweites Mal anzusehen. Während der Festwochen sind die kommenden Vorstellungen bereits ausverkauft. Für den Herbst sollten jedoch auch jetzt schon Karten gekauft werden, es gibt – sieht man sich die Buchungen im Internet an – nicht mehr allzu viele freie Plätze.
How goes the world
Auch in der Produktion „How goes the world“ greift Etchells auf Ersatzbausteine aus dem Theateralltag zurück. Allerdings arbeitet er dort mit zwei Männern und zwei Frauen, einem ausgeklügelten, wenngleich auch „arm“ wirkenden Bühnenbild, einem beinahe durchgehenden Soundlayer und einer großen Anzahl an Kostümwechseln. Wieder ist es die Beschäftigung mit dem Theaterspielen an sich, der Sinnhaftigkeit von Regieanweisungen, der Flexibilität des Ensembles, das auf immer neue Weise mit immer den gleichen auditiven Einspielungen zu kämpfen hat. In dieser Inszenierung jedoch verblüfft er auch mit Inhaltswechseln, allein ausgelöst durch veränderte Kostüme und veränderte Aufstellung der Darstellerinnen und Darsteller. Agieren sie zu Beginn wie in einem psychologisch tiefgründigen Kammerspiel, wechseln sie an einem Punkt zu einer Krimi-Farce, um bald darauf Tolstoi oder Tschechow anklingen zu lassen.
„How goes the world“ (Foto: Michiel Devijver)
Immer wieder sind es slapstickhafte Einlagen, die Lacher provozieren. Ein Klavier, auf dem nicht wirklich gespielt wird, das einen dennoch zur Erschöpfung antreibt. Wilde Schusswechsel mit der sofortigen Auferstehung der gerade Hingemetzelten oder eine aberwitzige Kampfszene gegen unsichtbare Gegner. All das wird in einer Endlosschleife mit jeweils leicht veränderten Parametern immer und immer wieder vorgeführt. Es ist ein Leichtes, sich den Probenspaß vorzustellen, auch jene Momente, die von den Schauspielerinnen und Schauspielern durch eigene Kreativität beigesteuert wurden. Es ist aber genauso schwer vorstellbar, wie groß die körperliche und geistige Herausforderung ist, die bei dieser Vorstellung auf der Bühne zu bewerkstelligen ist.Durch eine Zunahme des Tempos gegen Ende des Stückes und Handlungen, die nicht zueinanderpassen, wird das Geschehen ins derart Absurde gesteigert, dass es kein Verstehen mehr geben kann, sondern eigenen Assoziationen und Interpretationen Tür und Tor geöffnet erscheint. Anders als bei „Die Rechnung“ konfrontiert Etchells sein Publikum mit einem absoluten Overflow an gleichzeitigen und wiederkehrenden Ereignissen, sodass letztlich aus dem Theaterspaß ein Ernst zu werden droht. Auch hier arbeitet Etchells abermals mit einem Erwartungsbruch; lässt er doch Neil Callaghan zum Schluss aus seiner Rolle fallen und im Vorhinein in einem fiktiven Telefongespräch erklären, dass das Stück gleich zu Ende sei. Dass er diese Szene dann abermals spielt und damit wieder einen Turnaround einleitet, ist typisch für Tim Etchells Volten.
Wieder sind es unglaublich tolle, schauspielerische Leistungen, die dargeboten werden und das über lange Strecken völlig ohne Text. Aurélie Alessandroni, der schon erwähnte Neil Callaghan, Aurélie Lannoy und John Rowley performen bis zur völligen Verausgabung und erhielten vom Publikum in der Halle G im MuseumsQuartier bei der Premiere ausgiebige Ovationen.
von Elisabeth Ritonja | Mai 21, 2024 | Allgemein, Juki-Cult, Theater
Wer von uns, egal, wie alt wir auch immer sind, kennt nicht jene Alltagssituationen, in welchen wir mit unseren Familienangehörigen am Tisch sitzen und reden, ohne etwas zu sagen?
Als Kinder haben sich unsere Eltern – so wir Glück hatten – bemüht, uns in einer geschützten Umgebung aufwachsen zu lassen. Oft unter Zeitdruck, mit Alltagsarbeiten bis über beide Ohren beschäftigt. Zeit zum Reden, bis auf das, was im Alltag notwendig war, blieb selten. Auch standen die eigenen Befindlichkeiten zu sehr im Vordergrund, um sich intensiver auf das einzulassen, was hinter dem Handeln unserer nächsten Angehörigen steckt. Die Verletzungen, die ihnen von den Generationen davor mitgegeben wurden, bleiben oft im Dunkeln und werden nicht erzählt.
Mother loves you (Foto: TWOF2)
Irgendwann waren wir aus der Familie herausgewachsen und unsere Eltern gealtert. Selbst einmal Alt geworden kommt die Einsicht, dass wir vieles von Vater und Mutter nicht wissen, aus dem einfachen Grund, weil wir nie nachgefragt haben. Und – auch kein leichtes Erkennen – unser Verhalten den eigenen Kindern gegenüber verblüffend jenem ähnelt, welches wir selbst an unseren Erziehungsberechtigten nicht guthießen.
Dies könnte man als den Nukleus des Stückes „Mother loves you“ bezeichnen. „TWOF2 + dascollectiv“ – Giovanni Jussi und Maria Spanringaus aus Wien zeichnen dafür verantwortlich. Gezeigt wird es mit der Altersempfehlung 15–20 Jahre im Dschungel in einem nicht alltäglichen Setting. Rund um einen Küchentisch, flankiert von einem Kühlschrank und einem Ofen, bereitet sich eine junge Frau Frühstück zu. „Ich bin Ada“, stellt sie sich dem Publikum kurz vor. Es wird einer von drei Sätzen sein, die sie während des Stückes live spricht. Im Raum verteilt finden sich einige Bildschirme, auf welchen kurze Szenen, aufgenommen in einer Küche, zu sehen und hören sind. (Bühne Giovanni Jussi, Francesco Diaz)
Mother loves you (Foto: TWOF2)
Abermals ist es Ada, nun ca. 20 Jahre älter, mit ihrem halbwüchsigen Sohn Raphael, die in der ersten Video-Szene am Küchentisch sitzt. Es ist wider Erwarten Raphael, der sich um seine Mutter kümmert, die sich offenkundig in einer Lebenskrise befindet. In der nächsten Einstellung ist Ada als junge Mutter mit ihrem damaligen Partner in einer Küchenszene zu beobachten. Beide am Arbeiten, er am Laptop, sie an der Schreibmaschine, die nach kurzer Zeit aber ihren Geist aufgibt. Die Bitte, an seinem Computer weiterarbeiten zu können, wird von ihm mit der lapidaren Aussage abgeschmettert „Nein, das ist zu hoch für dich“. Damit ist klar, warum dieser Beziehung keine lange Dauer vorhergesagt werden kann und Ada auch in den späteren szenischen Abfolgen unverheiratet ist.
In den filmischen Einspielungen werden Ada und ihr Sohn Raphael in unterschiedlichen Lebensaltern gezeigt und dies auch nicht zeitlinear. Auf einen Blick in die Mitte von Adas Leben folgt eine Rückschau. Die Rollen, die Eltern und Kindern zugeschrieben werden, sind in den Szenen oftmals vertauscht. Fürsorgend der Sohn, aufmüpfig die Mutter. In der allerletzten Einstellung ist Raphael als alter Mann zu sehen.
Mother loves you (Foto: TWOF2)
Es dauert ein Weilchen, bis man die Familienverhältnisse zu verstehen beginnt, die wichtigste Konstellation jedoch – Mutter und Sohn – ist von Beginn an klar und bleibt es auch bis zum Schluss. Kurze Dialoge verdeutlichen, dass das Verhältnis der beiden nicht friktionsfrei ist, sie aber dennoch bemüht sind, ihre Beziehung aufrechtzuerhalten. Der unterlegte Sound ballt sich, wenn beide nicht mehr miteinander sprechen, zu einer akustisch wahrnehmbaren Bedrohung zusammen (Musik Bernhard Breuer). Wie selbstverständlich wird damit das Gefühl vermittelt, dass die Gefahr dort beginnt, wo das Reden miteinander aufhört.
Es sind die Zeitsprünge, aber auch die dadurch ausgelösten Irritationen, welche das Geschehen von den Protagonisten loslösen und bald als universell verstanden werden können. Das, was Raphael und seine Mutter verbindet, die Art, wie sie miteinander kommunizieren, sich aneinander reiben und sich dennoch immer das Beste wünschen, steht für viele Mutter-Kind-Beziehungen.
Mother loves you (Foto: TWOF2)
In einer der letzten filmischen Szenen sitzt der gealterte Raphael einer jungen Frau gegenüber, die Ada sein könnte. Man darf sich zusammenreimen, dass es seine jüngere Schwester ist, genauso gut könnte es aber seine Mutter sein, die er sich imaginiert. Der Kreis des Lebens schließt sich in dieser Einstellung. Aus Jung ist Alt geworden, aber die Jungen kommen nach und auch ihnen steht das Altern bevor.
Die Lebensgeschichte der beiden bleibt zum größten Teil verborgen, aber es ist auch nicht notwendig, mehr von ihnen zu erfahren, denn: Anna Katharina Bittermann, Dominik Gysin, Maria Spanring und Joshua Zischg, welche die Protagonistinnen und Protagonisten verkörpern, konzentrieren sich in ihren Dialogen (Buch Ursula Knoll) nur auf jeweils aktuelle Zustände, aus welchen man seine eigenen Rückschlüsse ziehen kann. Verstärkt wird dadurch die Gefühlsebene zwischen Ada und Raphael, in die man gut eintauchen kann.
Was während der Aufführung rätselhaft oder im Verborgenen bleibt, erfährt eine radikale Wendung am Schluss des Stückes. Da fällt der einschneidende und unvergessliche Satz: „Warum hast du nicht gefragt?“ Eine Frage, die an Raphael gestellt wird und die schließlich als Trigger funktioniert. Denn die Frage, das versteht man in der Sekunde, ist nicht nur an den Schauspieler im Video gestellt, sondern an alle, die zusehen.
Aufgrund des Erlebten weiß man auch ad hoc, was man selbst tun sollte, bevor es zu spät ist: Fragen und reden, auf den anderen oder die andere zugehen, um ihre Persönlichkeit besser zu verstehen. Auf Vater, Mutter, Schwester, Bruder, auf Freundin oder Freund – schlichtweg auf alle, mit denen man scheinbar vertraut ist, letztlich aber nie in die Tiefe der Persönlichkeit, ihre Wünsche und Ängste, abgetaucht ist. Man sollte die Frage aber auch stellen, um Klarheit zu bekommen, wer man selbst ist und warum man so geworden ist, wie man letztlich ist.
„Mother loves you“ ist eine geglückte, theatrale Versuchsanordnung mit einer gehörigen Portion praktizierte Lebensweisheit. Es bleibt zu hoffen, dass diese von Publikum auch dementsprechend aufgenommen wird.
von Elisabeth Ritonja | Mrz 12, 2024 | Allgemein, Theater
Pappkartons mit groß darauf vermerkten Datumsangaben, ein Fußball, zwei Sessel und ein Pferd – letzteres ein Requisit aus einem anderen Stück – mehr brauchen Ido Shaked und Hannan Ishay nicht, um ein außergewöhnliches Bühnenfeuerwerk zu zünden.
Die beiden Schauspieler und Regisseure präsentierten beim ‚wortwiege‘-Festival in den Kasematten in Wiener Neustadt unter dem Label ‚Théâtre Majâz‘ ihr neuestes Stück „A Handbook FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE“. Beide stammen aus Israel und verließen ihr Land vor einigen Jahren – Ido Shaked, um in Paris Fuß zu fassen und Hannan Ishay um in Österreich zu studieren und zu arbeiten. Nun lebt er jedoch mit seiner Familie wieder in Tel Aviv und kann aus erster Hand über die Situation vor Ort berichten.
A HANDBOOK FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE (Foto: Julia Kampichler)
Entstanden ist die Show, die ganz im Stil einer Doppelconférence geführt wird, aus der Idee, auf der Bühne über Israel und das Geschehen dort zu sprechen, da die beiden Männer auf ihren Reisen immer gefragt werden, was sich dort so abspiele. So nutzten sie den Informationsnotstand, um mit ihrer Sicht auf die Entwicklungen einen Beitrag zum besseren Verstehen der Geschehnisse zu leisten. Und das mit dem Mittel, welches sie am besten beherrschen: dem Theater.
Schon nach wenigen Bühnenaugenblicken wird klar: Ido und Hannan werfen sich ihre Argumentationsbälle, gespickt mit jeder Menge Humor und Seitenhieben in einer derartigen Rasanz zu, dass man froh ob ihres gut verständlichen Englisch ist. Über- oder Untertitel wären in dieser Konstellation vollkommen sinnlos, ihre Konversation ist aber so gut getaktet, dass auch Publikum, das nicht tagtäglich Englisch spricht, keine Schwierigkeiten hat, den beiden zu folgen.
Sie sprechen über Politik genauso wie über Fußball oder Essen, sie sprechen über Israel als Besatzungsmacht genauso wie über die Tatsache, dass sie über vieles nicht sprechen dürfen oder können. Zum Teil, weil es der Staatsraison widerspricht, zum Teil, weil sie selbst nicht wissen, wie mit einer Entwicklung umzugehen ist, deren Gewaltspiralen unausweichlich nach oben getrieben werden.
A HANDBOOK FOR THE ISRAELI THEATRE DIRECTOR IN EUROPE (Foto: Julia Kampichler)
So schwierig die Situation in ihrem Heimatland auch ist und man kaum glauben mag, dass ein Abend über Israel pfeffrig gewürzt so inszeniert werden kann, dass dem Publikum höchste Unterhaltung geboten wird, so einleuchtend ist das Unterfangen. Auf die Frage, ob sie sich denn angesichts der derzeitig tobenden Gewaltausbrüche sowohl von israelischer als auch palästinensischer Seite überhaupt in der Lage sähen, ihr Stück in Europa aufzuführen, kommt von beiden ein eindeutiges „Ja! Wie sollen wir denn sonst mit dieser Situation fertig werden, wenn nicht durch Reflexion auf der Bühne!“Die antisemitische Strömung in Europa wird genauso thematisiert wie das Gefühl, zerrissen zu sein. Zerrissen zwischen dem Luxus im Ausland zu leben, zugleich aber nicht die Möglichkeit zu haben, bei Anti-Regierungsdemos in Israel dabei zu sein. Ido und Hannan sind sich bewusst, dass ihr Unterfangen auf der Bühne in jedem Augenblick zum Scheitern verurteilt sein kann, aber Profis genug, dass dies nicht passiert. Ihr geistreiches Pas de deux fesselt, macht betroffen und lädt gleichzeitig zum Lachen ein und hinterlässt beim Publikum viele Gefühle und noch viel mehr Stoff, um nachzudenken.
„Was wirst du tun? Weggehen? Bleiben?“ fragt Ido seinen Kollegen Hannan am Schluss, der keine schlüssige Antwort darauf weiß. Vielmehr betten sie ihre letzten Überlegungen ein in die großen europäischen Mythen wie jene von Odysseus und Troja, jener Stadt, die in Asche gelegt wurde und verorten damit das Grauen und das Leid, aber auch die Wiederauferstehung aus dem Staub in jene jahrtausendealten Erzählungen, die heute noch genauso Gültigkeit haben wie in der Antike.
Welch wunderbare Referenz auch an die gastgebende „wortwiege“, welche in ihren Festivals ebenfalls immer wieder antike Stoffe aufgreift, um exakt dasselbe zu verdeutlichen. Prädikat: Absolut sehenswert!
von Elisabeth Ritonja | Feb 22, 2024 | Theater, Allgemein
Beim „wortwiege – Festival“, das noch bis 24. März unter dem Motto „fragil/fragile“ geballte Theaterpower nach Wiener Neustadt bringt, ist diese Inszenierung gut aufgehoben. Nicht nur, dass sie sich mit einem eleganten und passgenauen Bühnenbild von Andreas Lungenschmid perfekt in den historischen Wehrbau aus der Renaissance einfügt. Auch die Programmatik, über die Festspieljahre hinweg die großen europäischen Mythen zu erzählen, die die abendländische Kultur maßgeblich geprägt haben, macht gerade an diesem Ort Sinn.
„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)
Die Geschichte rund um die „Zauberin“ Medea lässt in der Krassnigg-Inszenierung kein einziges Mal einen antiquierten Mief aufkommen. Ganz im Gegenteil: Tatsächlich ist das Drama um die betrogene Frau, die sich ihrer Söhne und Lebensgrundlage beraubt, dazu entschließt, Rache an ihren Peinigern zu nehmen, emotional hochaktuell. Und fulminantest vom Ensemble gespielt. Nina C. Gabriel agiert als Medea so, dass sie in keinem einzelnen Augenblick ein outriertes, theatrales Gehabe aufkommen lässt. Vielmehr taucht sie in jede einzelne Emotion mit unglaublicher Verve ein, lässt dunkle Schatten in ihren Gedanken spürbar werden, oder legt ihre Verzweiflung offen, die sie letztlich zur Ermordung ihrer Kinder treibt. Schon als „Danton“ brillant, zeigt sie auch in dieser Rolle, dass sie der Titulierung „Grande Dame der Emotionen“ mehr als gerecht wird.
An ihrer Seite spielt Jens Ole Schmieder atemberaubend Jason, jenen verachtenswerten Charakter, der in höchster Not lieber sich selbst als seine Frau rettet. Seine Charakterdarstellung changiert zwischen Verzweiflung, Herrschsucht, Begehren, Verachtung und grandioser Selbstüberschätzung und lässt keinen Zweifel aufkommen, dass Medea seinen Handlungen einen Gegenpol setzen muss. Er braust auf, unterwirft sich, ist voller Berechnung und dann wieder kleinlaut – eine schauspielerische Leistung, vor der man den Hut ziehen muss.
„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)
„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)
„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)
Mit Peter Scholz konnte Krassnigg ein langjähriges Mitglied der Josefstadt verpflichten und landete damit einen weiteren Volltreffer. Sein König Kreon ist ein hinterlistiger, machtbesessener und über Leichen gehender Typ, der die Chuzpe hat, Medea noch in der allertiefsten Erniedrigung, die er ihr antut, höhnisch ins Gesicht zu lachen. Sein Spiel ist so provokant, dass man ihn am liebsten in jeder einzelnen Szene barsch zur Rede stellen möchte, ob er sich seines unmöglichen Benehmens nicht in Grund und Boden schämen möge.
Nur seine Tochter Kreusa – die von Saskia Klar höchst facettenreich dargestellt wird – kann ihm mit Rippenstößen Einhalt gebieten, wenn er rotzfrech beleidigend über die Stränge schlägt. Klars Kreusa lässt subtil erkennen, dass hinter ihrem naiven, kindlichen Gutmenschengehabe doch eine große Portion Eigennutz steckt – jedoch psychologisch klug verbrämt.
Die Inszenierung wartet, als USP von Krassnigg, wie immer mit einer Verschränkung des Bühnengeschehens mit Videoeinspielungen auf. In dieser Produktion gelingt ihr dadurch zugleich auch so mancher Rückblick in Medeas und Jasons Vergangenheit. Was Grillparzer in seinem ersten Teil der Trilogie „Das goldene Vlies“, dem „Gastfreund“, sowie dem zweiten Teil „Die Argonauten“, erzählte und für das Verständnis von Medeas Charakter wichtig ist, wird in kurzen filmischen Szenen sichtbar. Ebenso dachte die Regisseurin aber auch an die beiden Söhne von Medea, die ihre Mutter letztlich auch im Stich lassen. Auch hier sind es Filmszenen, die zeigen, dass ein lustiges, unbeschwertes Leben in Saus und Braus für sie wesentlich attraktiver ist als eines an Entbehrungen an der Seite von Medea. Sichtlichen Spaß bei den Filmaufnahmen hatten Flavio Schily und Nico Dorigatti als jugendliche Söhne. Die Verzahnung mit dem Geschehen auf der Bühne ist spannend und überraschend und erweitert die Produktion mehr als positiv. Christian Mair steuerte sowohl das Film- als auch das Musikmaterial bei. Letzteres mit einem emotional-sphärischen Touch, der die Gefühle beim Zusehen zusätzlich unterstützt.
„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)
„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)
„Medea – Alles Gegenwart“ in Wiener Neustadt (Foto: Julia Kampichler)
Auch die Bühne – ein roher Altarstein inmitten von sandigem Boden, vor einem mehrere Meter hohen Vlies und einem dahinterliegenden, sichtbaren antiken Portikus, als auch umgestürzten, schwarzen Säulenstümpfen, oszilliert zwischen einem Gestern und Heute, zwischen Macht und Vergänglichkeit. Die österreichisch-griechische Künstlerin Evelyne Papadopoulos, steuerte mit ihrem beeindruckenden Kunstwerk aus Schafsfell ein Vlies bei, das verdeutlicht, dass es seine Macht ist, nach der im Grunde jeder der Männer in diesem Drama strebt. Gerade die Größe des Vlieses und die natürlich scheinende Behandlung – die Locken der Schafsfelle werden fast haptisch erfahrbar – ergeben eine wunderbare Analogie zu dessen wahrer Bedeutung. Antoaneta Stereva, langjährige Kostümausstatterin der wortwiege, schuf Outfits, die archaisch wie modisch zugleich erscheinen. An einzelnen Stellen genügt das Umlegen eines Tuches oder eines Schales, um eine bestimmte Bedeutungsebene zu unterstützen. Dass Medea einen langen fingerlosen Handschuh in Dunkelrot trägt und ihr Mann Jason gegengleich einen schwarzen, sagt ebenfalls viel über ihre Gefühle zueinander aus.
„Medea – Alles Gegenwart“ wird Anna Maria Krassniggs Ruf gerecht, eine Regisseurin zu sein, die aus den Tiefen der Charaktere all das ans Tageslicht bringen kann, was ihr Tun, und sei es noch so monströs, erklärbar macht.