Warum ist dieser Shakespeare so unbekannt?

Warum ist dieser Shakespeare so unbekannt?

Wenn der Name Shakespeare fällt, kommen wohl den meisten von uns die Königsdramen wie Lear, Macbeth oder Hamlet in den Sinn. Um jemanden zu finden, der Coriolanus gesehen hat, muss man aber lange suchen. Dem schafft gerade die Theatercompagnie „wortwiege“ bei ihrem Festival „Europa in Szene“ Abhilfe. Die Theatermacherin und Regie-Professorin am Max Reinhardt Seminar, Anna Maria Krassnigg, lud zur aktuellen Festival-Ausgabe zwei ehemalige Studierende ihrer Regieklasse ein, um dort ihre Abschlussarbeiten zu zeigen. Azelia Opak griff dafür tief in die Recherchekiste und zeigt mit einem Ensemble aus jungen, aber dennoch schon arrivierten Schauspielern und zwei Mitgliedern der „wortwiege“ den Aufstieg und Fall des römischen Patriziers Coriolanus. Es ist das letzte Shakespeare-Werk und wird allgemein als reif bezeichnet. Seine unterschiedliche Deutungshoheit mag vielleicht daran schuld sein, dass es nicht oft gespielt wird.

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Coriolanus (Foto: Julia Kampichler)

Der von Kindheit an auf den Kampf gedrillte Coriolanus bewirbt sich, von seiner Mutter gepusht, für das Amt eines römischen Konsuls. Die Meriten dafür hat er sich hinlänglich erkämpft, mehr als 20 Narben könnte er dem Volk, wie es vor Amtsantritt üblich war, zeigen, um sich damit als Romtreuer auszuweisen. Könnte er – wäre da nicht sein unbeugsamer Stolz. Dieser ist es schließlich auch, der ihn zu Fall bringt. Einige Jahrhunderte nach Shakespeare wird es eine zweite Figur namens Michael Kohlhaas geben, die sich genauso unbeugsam zeigen wird, wie einst Coriolanus, wenngleich auch das Motiv ein anderes ist.

Bis es jedoch so weit ist, zeigt Opak Shakespeares Figuren in all ihrer psychologischen Differenziertheit: Coriolanus (Lukas Haas), der Unbeugsame, der ein einziges Mal nicht seinen Prinzipien treu bleibt, sonst aber als Sturkopf par excellance gelten kann. Toll, wie sich Haas in einen Furor reden kann, der fast schon erschreckend wirkt. Seine Mutter Volumnia (Judith Richter), die, ähnlich heutigen Sportmüttern, alles von ihrem Sohn abverlangt, um sich schließlich in seinem Ruhm sonnen zu können. Menenius Agrippa (Jens Ole Schmieder), Angehöriger der Elite-Kaste und Coriolanus mit wohlmeinendem Rat zur Seite stehend, um seine eigene Position nicht zu gefährden. Tullus Aufidius (Philipp Dornauer), Coriolanus mehrfach im Kampf unterlegen, wartet nur darauf, im richtigen Moment Rache nehmen zu können. Trotz seiner Jugend mimt Dornauer  zwar einen heißblütigen Kämpfer, setzt aber vor jede seiner Handlungen eine große Portion Nachdenkkllichkeit. Junius Brutus (Paul Hüttinger), der als einer der ersten Volkstribune schnell gelernt hat, wie politische Intrigen funktionieren. Zwar deuten seine äußeren Attribute wie eine dicke Silberkette um den Hals auf Bürgernähe, Hüttinger verleiht seinem Tribun dennoch eine viel Verschlagenheit und Durchtriebenheit. Letztlich Sicinius Velutus (Uwe Reichwaldt), zweiter Volkstribun, der sich in Opaks Regie wie ein österreichischer Beamten-Schlawiner durch alle gefährlichen Situationen durchmogelt und dabei die Sympathie des Publikums auf seiner Seite hat.

Mit einem extrem klugen Bühnenbild (Felix Huber) wird der lange Bühnenraum getrennt. Eine runde Drehtüre – die Vorderseite in strahlendem Gold, die Rückseite pechschwarz gestrichen, gibt jeweils an, ob sich das Geschehen in Rom oder bei Roms Feind, den Volskern, abspielt. Nach der letzten gewonnen Schlacht verschmiert Coriolanus mit seinen eigenen Händen Blut auf dem großen Spiegel in der Bühnenapsis und macht damit klar, dass seine Kämpfe nicht nur ein Menschenleben gekostet haben.

Die Idee, die Produktion mit Live-Musik zu begleiten, ist nicht nur großartig, sondern macht auch dramaturgisch Sinn. Boglarka Bako und Marie Schmidt intonieren an ihren Streichinstrumenten immer wieder Beethovens Coriolanus-Motiv mit kleinen Abwandlungen. Damit werden auch jene Augenblicke unterstrichen, in welchen sich der Patrizier ganz in seinem Element als Volksführer und adeliger Herrscher versteht, der sich das Recht herausnimmt, seine Entscheidungen ohne das Volk zu machen, das er eigentlich für lästig und entbehrlich hält. Die beiden Musikerinnen sitzen links und rechts so im hinteren Bühnenabschnitt, dass man sie zwar wahrnehmen kann, sie aber das Spiel auf der begrenzten Bühne nicht stören.

Die Inszenierung lebt nicht nur davon, dass sie unterschiedliche Auffassungen eines gelungenen Staatswesens und ihren jeweiligen Vertretern aufzeigt. Die Inszenierung lebt auch von starken, emotionalen Momenten, wie jenem, in welchem Coriolans Mutter sich vor ihm auf die Knie wirft, und ihn um Gnade für Rom bittet. Wie sie sich kurz darauf an ihn klammert, zeigt überdeutlich die schicksalhafte Verbindung zwischen ihr und ihrem Sohn auf. Judith Richter bleibt mit dieser Szene unauslöschbar in Erinnerung. Aber auch Jens Ole Schmieder gelingt es, bei einem beinahe wortlosen Auftritt zu zeigen, was hohe Schauspielkunst ist. Wie er mit kurzen, abschätzigen Schnalzlauten die Volkstribunen an die Bühnenseite drängt und sie nicht mittig Platz nehmen lässt, geht unter die Haut und macht ihn in diesem Moment zutiefst verabscheuungswürdig.

Wer hier gut und wer hier böse ist, ist letztlich nicht wirklich auszumachen. Wie im richtigen Leben gibt es in diesem Stück kein wirkliches Schwarz und kein wirkliches Weiß. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Politik früher genauso wie heute von Menschen gemacht wird. Von Menschen, die einerseits kraft ihres eigenen Willens dort stehen, wo sie stehen und andererseits dank familiärer oder politischer Seilschaften sich einen Platz erobert haben, für den sie bereit sind, persönliche Opfer zu bringen, aber auch über Leichen zu gehen.

Dass das Stück wie für die Kasematten in Wiener Neustadt gemacht scheint, ist ein weiterer Pluspunkt der Inszenierung. Umrahmt werden die weiteren Aufführungen von Salon-Gesprächen, aber auch einem neuen Format. Mit „Reden“ werden Reden von berühmten Menschen reenacted, die man meist nur vom Hörensagen kennt. Eine weitere tolle, künstlerische Idee, welche das große Feld der „Macht“, um das es letztlich bei „Europa in Szene“ in den Kasematten von Wiener Neustadt geht, von einer anderen Seite beleuchtet.

Wie oft noch? Wann hört das auf?

Wie oft noch? Wann hört das auf?

Ein großes Glasfenster gibt den Blick frei auf eine grüne Landschaft, während das Publikum seine Plätze aufsucht. Als das Ensemble die Bühne betritt, muss es Taschenlampen benutzen, denn die Nacht ist angebrochen.

Birgit Stöger, Tamara Semzov und Thomas Kolle suchen sich einen Platz auf einer Laufsteg-ähnlichen Architektur und legen durch Wegziehen von Plastikfolien ein Schwimmbad frei, das ohne Wasser den Bühnenraum beherrscht. (Bühne und Kostüm Andrea Simeon gemeinsam mit der Regisseurin Blanka Rádóczy) Metaphorisch haben sie sich von einer irritierenden, angsteinflößenden Außenwelt in einen geschützten Raum begeben. Einen Raum, in dem sie ins Innere ihres Seelenlebens schlüpfen werden, um es von verschiedenen Blickwinkeln aus zu erforschen.

Die deutsche Autorin und Peter-Härtling-Preisträgerin Regina Dürig schuf mit der Novelle „Federn lassen“ die Grundlage für das Stück im Kosmostheater und erhielt dafür 2021 den Literaturpreis des Kantons Bern. Darin vermisst sie weibliche Befindlichkeiten von der Kindheit an bis ins mittlere Lebensalter. Sie beschreibt Erlebnisse, die so oder in leicht abgewandelter Form viele Frauen teilen. Ereignisse, die das Verständnis von Frau-Sein über die Jahre hinweg prägen und formen. Momente, über die aber oft nicht gesprochen wird. Es sind mit Scham behaftete Erlebnisse, wie verbale oder körperliche Übergriffe, die von Kolle, Semzov und Stöger in rosaroten bis knallroten Outfits vorgetragen werden. Dürigs Sprache bleibt dabei erstaunlich emotionslos und distanziert. Das psychologische Phänomen, welches eine Abspaltung des Ichs von traumatischen Erinnerungen bewirkt, wird dadurch spürbar.

Durch einen Regie-Kunstgriff gelingt es an einer Stelle dennoch, einen hohen Emotionslevel ins Publikum zu schieben. Und dies ganz ohne Action und Sprache. Semzov erzählt einleitend von einer Situation, in der die „Du-Erzählerin“ Opfer einer Vergewaltigung durch vier junge Männer wurde. Das, was in ihrem Kopf dabei vor sich ging – Erinnerungsfetzen in Stichworten zusammengefasst – werden dabei in großen, weißen Lettern auf die schwarze Bühnenrückwand projiziert. Unterstützt von einer beklemmenden Stille, die sich im Saal ausbreitet, entsteht ein unheimlicher Sog, ein Mitfühlen und Atem-Anhalten und ein Gefühl der absoluten Hilflosigkeit.

Immer wieder werden jene Momente thematisiert, in welchen Frau sich von Mann zu Handlungen überreden lässt, die sie eigentlich nicht machen möchte. Immer wird dieses Übergehen des eigenen, richtigen Bauchgefühls prompt mit einem negativen Ausgang bestraft. Ob es ein Essen wider Willen oder ein Saunabesuch ist, von dem Frau weiß, dass sie ihn nicht verträgt, ob es das arglose Mitnehmen des Freundes eines Freundes in die eigene Wohnung oder das Kaufen eines spitzenbesetzten BHs anstelle eines bequemen, bauchfreien Oberteils ist – jedes Mal führt das Übergehen der eigenen Bedürfnisse zu einem Zurechtstutzen der Idee, die vor allem noch junge Frauen von einem gelungen, selbstbestimmten Leben haben. Mit jeder neuen Enttäuschung, Kränkung oder Belästigung lässt dabei die eigene Seele Federn, solange, bis sie sich selbst nur mehr vage spürt und sogar am eigenen Leib strafrechtlich erlittene Handlungen leugnet.

Als auditive Ergänzung dienen Soundeinspielungen (Moritz Wallmüller), welche die Putzhandlungen und Aufräumarbeiten unterstützen, die zwischen den einzelnen Textpassagen ausgeführt werden. Je länger die Vorstellung dauert, umso stärker drängt sich die Frage auf: Wie oft muss sich eine Frau selbst beschneiden, wie oft lässt sie es noch zu, dass ihr Körper und ihre Gefühle massakriert werden, ohne eine Konsequenz zu ziehen? Und diese Frage bezieht sich nicht nur auf die Figuren auf der Bühne.

„Federn lassen“ ist ein Stück für Frauen und Männer jeden Alters. In ihm werden Erfahrungen geteilt, die Jüngeren als Mahnung gelten können, sich in gewissen Situationen standhafter zu erweisen und auf sein eigenes Gefühl zu hören und diese nicht zu übergehen. Es ruft aber auch Erinnerungen hervor, welche die vermeintlich eigene Schuld an Missbräuchen jeglicher Art relativieren und entlasten. Und es bietet viel Redestoff zwischen den Geschlechtern, ohne dabei jemals das Gegenüber anzuklagen oder verurteilen zu müssen.

 

Von Wien ins Burgenland und nach ‚Chikago‘

Von Wien ins Burgenland und nach ‚Chikago‘

Herr Grillparzer

„Herr Grillparzer fasst sich ein Herz und fährt mit dem Donaudampfer ans Schwarze Meer“ ist der opulente Titel eines Stückes von Erwin Riess. Darin beschreibt er das Aufeinandertreffen einer jungen Ungarin mit dem alternden Franz Grillparzer, der sich auf eine Reise von Wien nach Athen begeben hat. Sowohl er als auch die junge Frau flüchten vor den Umständen ihres Heimatortes. Riess gelingt es, Franz Grillparzer als einen Menschen zwischen Zaudern und Beharren, zwischen aktivem Kreativitätsschub und grantlerischer Lethargie greifbar zu machen. Csilla, seine ihm zugeteilte Stewardess, entpuppt sich rasch als wissbegierige junge Frau. Sie erkennt in dem Schriftsteller eine unverhoffte Bildungschance, vielleicht sogar einen Ausstieg aus ihrem Taglöhnerdasein.

Mit der Form einer „Szenischen Skizze“, wie Anna Maria Krassnigg dieses spezielle Format nennt, wechselt das Geschehen auf der atmosphärisch eingerichteten Bühne von Lydia Hofmann permanent zwischen freiem Spiel und Lesung. Dadurch schafft die literaturbesessene Theatermacherin einen eigenen Raum, der sich zwischen dem geschriebenen Wort und seiner darstellenden Umsetzung auf der Bühne bildet. Dabei gelingen Ein- und Ausblicke sowohl zurück zum Buch als literarischen Ursprungsort als auch zu einer Bühne, auf welcher das Geschriebene eine dreidimensionale Lebendigkeit erfährt. Die herausragende Besetzung – Horst Schily als Grillparzer und Saskia Klar als Csilla, sowie Raphaela Schober in der Apsis des Bühnenraums am Bösendorfer-Konzertflügel, ausgestattet mit einem üppigen, gold glänzenden Schleppenrock, der an schimmernde Wasserreflexionen und Wellen der Donau erinnert, machen die Aufführung zu mehr als einem theatralischen Kleinod. Und vor allem Lust, sich Grillparzer wieder oder auch ganz neu lesend zu nähern.

Chikago

Dasselbe Format, wenngleich auch stofflich gänzlich verschieden, wird dem Publikum in einer zweiten „Bühnenröhre“ der Kasematten mit dem Stück „Chikago“ präsentiert. Es ist dies eine dramatische Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Theodora Bauer. Karl Baratta und Marie-Therese Handle-Pfeiffer schufen die Bühnenfassung. Dabei blieb der Sprachdiktus von Bauer erhalten, der sich von poetisch-erzählerischen Passagen hin zu rohen, fast kantigen Dialogen spannt.

Mit Anna (Nina Gabriel) und Katica (Anna Maria Krassnigg) werden zwei Schwestern aus dem Burgenland der 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts vorgestellt, die sich mit einem jungen Mann, Niko Lukic, aus ihrem Ort nach einem dramatischen Ereignis „ins Amerika“ aufmachen. Der Roman erzählt eine Familiengeschichte über drei Generationen hinweg. Er berichtet vom Auswandern genauso wie vom Zurückkommen und erklärt auf sehr anschauliche Weise, wie junge Menschen politisch radikalisiert werden können. Auch diese Inszenierung lebt von einer musikalischen Besonderheit. Christian Mair agiert sowohl am Hackbrett als auch an einem Sampler und untermalt das Geschehen mit zarten Klangspuren bis hin zu jazzigen Rhythmen und deutschem Liedgut.

Das Ensemble spielt hinter einer langgezogenen Tafel. Gekennzeichnet nur durch minimale Veränderungen an den Kostümen, schlüpfen Lukic und Krassnigg in mehrere Rollen. Ein Erlebnis, wie sich Krassnigg dabei von blutjungen Mädeln sich zum nationalistischen Anführer einer Jugendgruppe verwandelt. Die Wiederholung eines tragischen Lebens in der familiären Kette Vater-Sohn zeigt Lukic ohne aufgesetzen Pathos lebensnah. Einzig Nina C. Gabriel verkörpert durchgehend eine einzige Person: Anna, die trotz widrigster Umstände ihr Leben meistert und ausgestattet mit einer großen Portion Lebensweisheit auch das politische Geschehen rund um sie herum mit treffenden Aussagen messerscharf analysiert.

Die feinfühlige Staffage von Lydia Hofmann inklusive eines dreidimensionalen Tableaus, das eine amerikanische Skyline inklusive ihr vorgesetzter Freiheitsstatue zeigt, lässt mühelos den Ortswechsel zwischen dem burgenländischen Dorf und der amerikanischen Großstadt zu.

Die „Szenischen Skizzen“, die Anna Maria Krassnigg hier publik macht, würden sich – in gekürzter Fassung – auch extrem gut als Fernsehformat machen. Man stelle sich vor, Bücher würden so vorgestellt werden! Mit einem dramaturgisch gut gesetzten Ende könnte man wahrscheinlich gar nicht anders, als sofort die Buchhandlung seines Vertrauens aufzusuchen und sich diese Lektüre kaufen.

Die Großmutter

Ergänzt wird das Festival in Wiener Neustadt durch sonntägliche Matineen, in welchen auch der Kurzfilm „Die Großmutter“ mit Erni Mangold in der Hauptrolle gezeigt wird. Eine filmische Fassung der wortwiege nach einer Erzählung von Marie von Ebner-Eschenbach. Darin trifft eine alte Frau in ihrer Trauer um ihren Enkelsohn auf einen jungen Anatomie-Arzt. Die Rückwärtsspulung ihres Ganges vom Donauufer hin zur Prosektur erzeugt eine eigene Zeitqualität, die sich vom realen Messen und Erleben einiger Stunden abhebt. Und die den letzten Weg ihres ertrunkenen Enkels, weg vom Wasser, hin in die Leichenhalle, auf subtile Weise nachzeichnet.

Alle Termine finden sich hier wortwiege.at

 

Vom Kommen und Gehen des Menschen

Vom Kommen und Gehen des Menschen

Haas zählt zu den wichtigsten und einflussreichsten Komponisten seiner Generation und kann nicht nur mit einer stattlichen Anzahl von Orchester- und Ensemblewerken aufwarten, die vorrangig bei den internationalen Festivals für moderne Musik aufgeführt werden. „Morgen und Abend“ ist bereits sein neuntes Bühnenwerk und das zweite, das auf einem Text des norwegischen Autors mit österreichischem Wohnsitz basiert.

Fosse gilt unter Literaturkennern als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. In seinem Roman „Morgen und Abend“ stellt er keine detaillierte Biografie eines Mannes vor, sondern konzentriert sich lediglich auf die Beschreibung seiner Geburt und seines Todes. Auch in der Bühnenfassung bleibt dieses verkürzte Lebensdestillat erhalten und reicht dennoch für einen spannenden und emotionsgeladenen Operngenuss.

Mit wuchtigen Paukenschlägen wird jener Vorgang angekündigt, der einen Menschen aus dem sicheren, mütterlichen Uterus in eine Welt katapultiert, die sich auf der Bühne als überaus kalt und unwirtlich darstellt. Der musikalische Auftakt beschreibt mit großer Dramatik jenes „ungefragt-in-die-Welt-geworfen-Werden“, wie Martin Heidegger es definierte, das mit jeder Geburt einhergeht. Graue Asche oder unfruchtbare Erde bedeckt den Boden der Bühne, eine hölzerne Umrandung, die an den Bug eines größeren Schiffes erinnert, bildet die Begrenzung. Der Fischer Olai, ein Mann mittleren Alters – dargestellt von Cornelius Obonya – erwartet in dieser dystopischen Umgebung die Niederkunft seiner Frau und wechselt dabei in seinen Emotionen von panisch ängstlich, empathisch mitleidend bis hysterisch lachend. Die Art und Weise, wie Fosse die Gedanken eines werdenden Vaters vermittelt, ist einzigartig und vergleichslos. Obonya lässt – trotz einer Sprechrolle – dennoch seine Stimme mit seinen Rufen und Stöhnen höchst musikalisch mit dem Orchester mitschwingen. Man fühlt seine Empathie mit der Gebärenden, den Schmerz, den er selbst körperlich wahrnimmt, man taucht ein in seine Hilflosigkeit, die darin gipfelt, dass er vor Angst eine Zeitlang braucht, um seinen Sohn, den ihm die Hebamme bringt, auch tatsächlich ansehen zu können.

Flirrende Streicher vermitteln das Gefühl eines Schwebezustandes mit höchster Dramatik, ein von der Ferne hörbar werdender Chor verdichtet die bis dahin abseits der Dur-und Mollskalen angesiedelten Klänge, hin zu einem langen, harmonischen Akkord. Dieser, sowie einige Glockenschläge lassen an eine westlich-christlich konnotierte Geburt denken, die immer mit einer metaphysischen Bestimmung verbunden ist. Noch einmal wird dem Chor eine derartige Metapher zuteilwerden – allerdings erst an viel späterer Stelle. Allein wegen dieser Szene wäre es wert, sich diese Oper anzusehen. Sowohl die musikalische Umsetzung als auch die Erzählung eines Geburtsvorganges aus der Sicht eines Mannes sind ein Erlebnis für sich.

Beständige aufstrebende Streicherglissandi – ein kompositorisches Markenzeichen von Haas – werden an einigen Stellen von fast bösartigen Bläserstimmen begleitet und machen deutlich, dass das, was auf den neuen Erdenbürger zukommt, zumindest von Wirrnissen begleitet sein wird.

„Es gibt einen Gott, der ist ganz, ganz weit weg und ganz nah.“ Mit diesem Satz drückt Olai seine Ergriffenheit über die Geburt seines Sohnes, den er Johannes nennt, aus. Auch dieser Satz wird in der Oper noch einmal an späterer Stelle vorkommen.

Normalerweise würde nun die Erzählung über das Leben von Johannes beginnen – nicht jedoch bei „Morgen und Abend“. Durch einen kleinen Regietrick verwandelt sich der Säugling Johannes in einem Augenblick zu einem alten Mann. Zu Johannes, dessen Frau und dessen bester Freund Peter schon gestorben sind und der von seiner jüngsten Tochter fürsorglich täglich besucht wird. Rasch wird klar, dass er sich an seinem Lebensende befindet, denn das, was er sagt, pendelt zwischen Fantasie und Realität.

Kongruent dazu bewegen sich die einzelnen Wände seines Hauses samt schlichtem Interieur über dem Bühnenboden auf und ab, um schließlich ganz zu verschwinden. Während sich der alte Mann wundert, dass sich alles „so leicht anfühlt“ und das Blut aus seinen Fingern und Zehen weicht, springen Kinder um sein Bett und verdeutlichen seine Jugenderinnerungen. Mit dem Auftritt seines Freundes Peter gelingt Foss sogar ein komischer Einschub, denn der sterbende Johannes erklärt, dass es höchst an der Zeit wäre, Peters Haare wieder zu schneiden. Der Autor verweist damit auf Situationen, die Menschen, welche demente Patienten betreuen, bekannt vorkommen. Oft möchten diese Aufgaben ausführen, die sie in ihrer Vergangenheit erledigen mussten, aber nun in keinem Realitätsbezug mehr stehen. Das Duett, das Haas für Peter und Johann schrieb, ist berückend schön und wird, wie schon zu Beginn der Oper, von choralartigen Chorpassagen und Glockenschlägen begleitet.

Einen sowohl musikalisch als auch emotional eindrucksvollen Auftritt hat Signe, die Tochter von Johannes in einer Szene, in welcher sie beschreibt, dass „etwas Kaltes auf sie zugekommen und durch sie hindurchgegangen“ sei. Diese Schilderung deckt sich mit Berichten von Hinterbliebenen, die das Ableben von ihnen nahestehenden Personen körperlich spüren konnten, ohne beim Sterbemoment tatsächlich dabei gewesen zu sein.

Jener Moment, in welchem Johann von Peter zu seiner letzten Reise geholt wird, erfährt eine schöne und zugleich kluge Regieumsetzung. Peter lässt Johann auf einem Stuhl Platz nehmen, stellt sich direkt hinter ihn und beginnt diesem die Arme so zu bewegen, als würde er in einem kleinen Boot die Ruder bewegen. Ad hoc denkt man an die antike Überlieferung von Charon, der die verstorbenen Seelen auf dem Fluss Styx ins Jenseits begleitete.

In der letzten Szene, in der sich Johanns Tochter an seinem Grab befindet, spricht sie noch einmal jenen Satz, den ihr Großvater bei der Geburt seines Sohnes zitierte: „Es gibt einen Gott, der ist ganz, ganz weit weg und ganz nah.“ Die Videoprojektionen von zarten, symmetrischen Nebelschwaden, die von einem hellen Licht bekrönt werden und die letzte Feststellung von Johann, der im Loslassen von der Welt auf diese hinunterzusehen scheint, lassen den Tod als etwas erscheinen, vor dem man sich nicht fürchten muss. „Da unten ist es nicht schön“, singt Johann und vermittelt damit ganz den Eindruck, sich in einem Zustand zu befinden, der besser ist als jener, den er auf der Welt vorgefunden hatte.

Roland Kluttig agierte souverän am Dirigentenpult, was besonders bei zeitgenössischen Partituren hervorgehoben werden muss, ist es doch nicht jedermanns Sache, diese treffsicher dem Orchester zu vermitteln. Immo Karamans Regie, Rifail Ajdarpasics Bühnenumsetzung und Fabian Poscas Kostüme erscheinen wie aus einem Guss. Ebenso wie die Lichtgestaltung von Daniel Weiss und das Videodesign von Philipp Fleischer.

Cathrin Lange singt sowohl die Amme als auch die Tochter von Johannes und beeindruckt mit ihrem sehr klaren und festen Timbre bis hin zum letzten, in sphärische Höhen entrückten Ton, der zugleich der letzte der Aufführung ist. Markus Butter ist wohl eine Johann´sche Idealbesetzung. Seine Präsenz, die sich über den gesamten zweiten Teil der Aufführung erstreckt, bleibt ein starker Erinnerungsmoment. Christina Baader als seine Frau Erna und Matthias Koziorowski als Freund Peter ergänzen das Ensemble auf der Bühne mit genauso beeindruckenden Leistungen wie die zuvor Genannten.

Das Publikum dankte mit reichlichem Applaus. Georg Friedrich Haas schuf eine Oper, die trotz der Schwere ihres Themas Suchtcharakter bereithält. Dies vor allem, da seine Musik, die zwischen lichten, sphärischen Höhen und brachial-brutalen Klangmomenten oszilliert, alles aufweist, was hörenswert ist.

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Aurelia Gruber

Nussschale (Foto: Martin Schwanda)
„OGott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“
Das Objekt – die Nussschale – hier in einem Zitat aus William Shakespeares Hamlet vorkommend – verwendete der englische Bestseller-Autor Ian McEwan als Titel für seinen neuen Roman. Nun ist „Nussschale“ in einer Dramatisierung in den Kasematten von Wiener Neustadt auf der Bühne zu sehen. Auf den Erhalt dieser Rechte ist Anna Maria Krassnigg, künstlerische Leiterin der „wortwiege“, besonders stolz. In ihrem zweiten Festival-Durchlauf von ‚Bloody Crown‘ brachte sie vor wenigen Tagen das Stück – optisch höchst spektakulär – zur Aufführung.

McEwan hat sich darin intensiv mit der Rolle Hamlets als Sohn einer Frau beschäftigt, die den Vater des Kindes nicht nur zugunsten seines Bruders abserviert, sondern letztlich auch noch vergiftet. „Ein Umstand, dessen Spannung kein Mensch in seinem Leben je auflösen kann“, erläuterte Karl Baratta, Chefdramaturg der ‚wortwiege‘ bei einem Premieren-Einführungsgespräch.

Und tatsächlich kreist das Stück permanent um die Frage von Macht und Ohnmacht, von Recht und Gerechtigkeit, von Eros und Thanatos. Schwere Brocken, möchte man meinen. Aber McEwans subtiler Witz und eine außergewöhnlich fulminant-spannende Inszenierung machen diese Theaterkost verdaulich.

McEwan bediente sich eines köstlichen Tricks, die Gedanken seines Hamlet einzubringen. Er befindet sich noch im Bauch seiner Mutter und trägt noch keinen Namen, ist aber nicht nur hochintelligent und philosophisch begabt, sondern hat auch noch das Glück, jede Menge Nachrichten und Podcasts zu hören, mit welchen sich seine Mutter die Zeit vertreibt.

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Nussschale – (Foto: Andrea Klem)
Nina C. Gabriel räkelt sich intrigenspinnend und divenhaft als Trudy, der werdenden Mutter, auf einer Chaiselongue in der Bühnenmitte, malerisch umstreut von allerlei Mist. Zum Aufräumen ist diese Frau nicht geboren. Mal lockt sie ihren Ehemann, dem sie eine Trennung auf Zeit aufgebrummt hat, mal stößt sie ihn ab – immer jedoch ist sie dessen Bruder, ihrem Lover, namens Claude, hörig. So geistlos dieser gegen den Verleger-Vater auch ist, so potent scheint er aber zu sein.

Um das Ungeborene sicht- und hörbar zu machen, drehten Krassnigg und ihr Team in zwei stimmigen Locations Filmaufnahmen mit Flavio Schily als ungeborenem Protagonisten: Sowohl im Inneren des nie in Betrieb gegangenen AKWs Zwentendorf, als auch in den futuristisch gestalteten Behandlungsräumen der Firma Medaustron, die für ihre Behandlungs-Technik Teilchenbeschleuniger einsetzt. Der Gedankengang, diese Drehorte zu verwenden, ist logisch nachvollziehbar. Die Geburt eines Menschen ist auch etwas, das mit einer plötzlichen, enormen Beschleunigung zu tun hat. Letztlich wird ja jeder und jede von uns aus der schützenden Mutter-Hülle hinaus ins Leben katapultiert, ohne im Wesentlichen aktiv diesen Vorgang zu beeinflussen.

Schily steckt in einem hautengen Bodysuit mit orangen Streifen, Moonboots und trägt einen Helm mit sich. Wenn er ihn sich aufsetzt, weiß man, dass seine Mutter – „viel zu spät in der Schwangerschaft!“ wieder mit ihrem Liebhaber in hitzigen Körperkontakt getreten ist. Es sind nicht nur diese humorigen Ideen, die Pfiff in die Filmsequenzen bringen. Der Ungeborene Allwissende zeigt sich sowohl sprachlich als auch mimisch von einer Eleganz und Eloquenz, die seiner Verwandtschaft samt und sonders fehlt. Und er ist ein Beobachter, der das Theaterprospekt auflöst und von diesem nicht nur auf das Geschehen unter ihm auf die Bühne, sondern auch ins Publikum blickt. Minutiös auf Sekunden genau spricht er – leider von seinen Eltern und seinem Onkel ungehört – auf seine Verwandten ein, erklärt so manche charakterliche Blöße, oder kommentiert den Geschmack jener Weine, die er durch die Plazenta schmeckt, wenn seine Mutter sich wieder ein- oder zwei Gläser gönnt. Es ist das reinste Vergnügen, Flavio Schily bei diesem Spiel zuzusehen. Jede Geste, jede kleinste Mimik sitzt, ganz abgesehen von seinem melodiösen und zugleich außergewöhnlich reinen Sprachduktus, von dem man gar nicht genug bekommen kann.

Jens Ole Schmieder gelingt es als Claude, sich innerhalb weniger Augenblicke beim Publikum unsympathisch zu machen. So schmierig wie seine Haare auf dem Kopf anliegen, ist auch sein Charakter. Den Bruder zur Seite zu schaffen ist er flugs dabei, genauso schnell schmiedet er aber auch einen Plan, wie er beim Auffliegen der Tat als völlig unschuldig gelten könnte. Es dauert nicht lange, da kippt das vermeintliche Einvernehmen zwischen ihm und Trudy gefährlich in die Nähe von Misstrauen und Hass.

Martin Schwanda als Trudys Ehemann und Vater des ungeborenen Kindes wartet mit einer Mischung aus verkanntem Künstlergenie und gewitztem, wenngleich gehörntem Ehemann auf. Seine Auftritte sind mit einer gehörigen Portion Humor gesprickt, die aber auch klarmachen, warum Trudy diesen Mann nicht mehr liebt. In seinem Schlepptau hat er die junge Studentin Elodie – hinreißend naiv und tränenüberströmt von Petra Staduan dargestellt. Ab der Mitte des Stückes, nachdem ein Mordkomplott geschmiedet und ausgeführt worden ist, beginnt sich die Schlinge um die Köpfe des Mörderpaares rasant zuzuziehen.

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Nussschale (Fotos: Andrea Klem)
Isabella Wolf als elegante Kommissarin mit Karrierewünschen überbringt Trudy und Claude eine Schreckensnachricht nach der anderen, bis sich schließlich auch noch das Ungeborene entschließt, tatkräftig einzugreifen, um zu seinem Recht zu kommen.

McEwans Roman wird in den Kasematten in Wiener Neustadt in eine schwarze Komödie verwandelt, die auch – es sei nicht verraten wie –einen Blick zurück in Shakespeares Zeit wirft. Sie präsentiert darüber hinaus einen aktuellen Zustandsbericht unserer Gesellschaft, die sich offenbar schon länger nicht mehr in einer vermeintlich eleganten Mitte befindet. Schmutzige Immobiliendeals, eine Bevölkerung, die längst das wichtige Bedürfnis des Essens dank Lieferservice nur zu einem kurzen Konsumrausch degradiert, eine entgrenzte Informationsflut, die mehr verunsichert, als informiert sind nur einige Themen, die realitätsnah aufgezeigt werden.

Am Gelingen dieser Inszenierung hat auch Andreas Lungenschmid maßgeblichen Anteil. Sein Bühnenbild – ein Raum, der auf der einen Seite durch eine Bücherwand begrenzt ist und an deren gegenüberliegenden Regalen sich eine Flasche an die andere reiht, ist so gut gemacht, dass die Filmeinspielungen diesen Raum immer wieder optisch verändern.

Fast unmerklich, wenngleich doch mit Witz, geht ein Kostümwechsel vor sich. (Kostüme Antoaneta Stereva) Trudy tauscht nach der Überbringung der Todesnachricht ihres Mannes ihren hellen Morgenrock gegen einen schwarzen. Tatsächlich ist ihr Charakter nicht eindimensional angelegt. Zu oft wird ihr Schwanken zwischen ehelicher Befreiung und Schuld, mit der sie nicht umgehen kann, thematisiert.

„Nussschale“ ist ein gelungenes, aktuelles Theaterstück in der Tradition von Kammerspielen, bedient sich aber ungewöhnlicher zeitgenössischer, theatraler Hilfsmittel. Mit diesen werden Stimmungen und Räume geschaffen, die das Medium Theater und Film miteinander eng verzahnen. „Wir arbeiten ganz in der Nachfolge der ehemals beliebten Kinobühnenschauen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ – O-Ton Krassnigg. Wobei sie nobel nicht erwähnt, dass die hier angewandte Technik diese Grenzen schon so weit sprengt, dass das Publikum zum Teil sogar Wahrnehmungstäuschungen erliegt.

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Nussschale(Foto: Martin Schwanda)

Unterstützt wird der Plot durch eine feine Soundkulisse (Christian Mair) und ein ausgeklügeltes Lichtkonzept. (Lukas Kaltenbäck). Ob Beziehungskrimi oder Hamlet-Neuüberschreibung oder einer Mischung aus beiden Genres – wie auch immer man das Stück aufnehmen mag, es schmiegt sich elegant ans eigene Interpretationsvermögen und ist deshalb perfekt geeignet, sich es im Familien- oder Freundeskreis gemeinsam anzusehen.
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