Vom Kommen und Gehen des Menschen

Vom Kommen und Gehen des Menschen

Haas zählt zu den wichtigsten und einflussreichsten Komponisten seiner Generation und kann nicht nur mit einer stattlichen Anzahl von Orchester- und Ensemblewerken aufwarten, die vorrangig bei den internationalen Festivals für moderne Musik aufgeführt werden. „Morgen und Abend“ ist bereits sein neuntes Bühnenwerk und das zweite, das auf einem Text des norwegischen Autors mit österreichischem Wohnsitz basiert.

Fosse gilt unter Literaturkennern als Anwärter auf den Literaturnobelpreis. In seinem Roman „Morgen und Abend“ stellt er keine detaillierte Biografie eines Mannes vor, sondern konzentriert sich lediglich auf die Beschreibung seiner Geburt und seines Todes. Auch in der Bühnenfassung bleibt dieses verkürzte Lebensdestillat erhalten und reicht dennoch für einen spannenden und emotionsgeladenen Operngenuss.

Mit wuchtigen Paukenschlägen wird jener Vorgang angekündigt, der einen Menschen aus dem sicheren, mütterlichen Uterus in eine Welt katapultiert, die sich auf der Bühne als überaus kalt und unwirtlich darstellt. Der musikalische Auftakt beschreibt mit großer Dramatik jenes „ungefragt-in-die-Welt-geworfen-Werden“, wie Martin Heidegger es definierte, das mit jeder Geburt einhergeht. Graue Asche oder unfruchtbare Erde bedeckt den Boden der Bühne, eine hölzerne Umrandung, die an den Bug eines größeren Schiffes erinnert, bildet die Begrenzung. Der Fischer Olai, ein Mann mittleren Alters – dargestellt von Cornelius Obonya – erwartet in dieser dystopischen Umgebung die Niederkunft seiner Frau und wechselt dabei in seinen Emotionen von panisch ängstlich, empathisch mitleidend bis hysterisch lachend. Die Art und Weise, wie Fosse die Gedanken eines werdenden Vaters vermittelt, ist einzigartig und vergleichslos. Obonya lässt – trotz einer Sprechrolle – dennoch seine Stimme mit seinen Rufen und Stöhnen höchst musikalisch mit dem Orchester mitschwingen. Man fühlt seine Empathie mit der Gebärenden, den Schmerz, den er selbst körperlich wahrnimmt, man taucht ein in seine Hilflosigkeit, die darin gipfelt, dass er vor Angst eine Zeitlang braucht, um seinen Sohn, den ihm die Hebamme bringt, auch tatsächlich ansehen zu können.

Flirrende Streicher vermitteln das Gefühl eines Schwebezustandes mit höchster Dramatik, ein von der Ferne hörbar werdender Chor verdichtet die bis dahin abseits der Dur-und Mollskalen angesiedelten Klänge, hin zu einem langen, harmonischen Akkord. Dieser, sowie einige Glockenschläge lassen an eine westlich-christlich konnotierte Geburt denken, die immer mit einer metaphysischen Bestimmung verbunden ist. Noch einmal wird dem Chor eine derartige Metapher zuteilwerden – allerdings erst an viel späterer Stelle. Allein wegen dieser Szene wäre es wert, sich diese Oper anzusehen. Sowohl die musikalische Umsetzung als auch die Erzählung eines Geburtsvorganges aus der Sicht eines Mannes sind ein Erlebnis für sich.

Beständige aufstrebende Streicherglissandi – ein kompositorisches Markenzeichen von Haas – werden an einigen Stellen von fast bösartigen Bläserstimmen begleitet und machen deutlich, dass das, was auf den neuen Erdenbürger zukommt, zumindest von Wirrnissen begleitet sein wird.

„Es gibt einen Gott, der ist ganz, ganz weit weg und ganz nah.“ Mit diesem Satz drückt Olai seine Ergriffenheit über die Geburt seines Sohnes, den er Johannes nennt, aus. Auch dieser Satz wird in der Oper noch einmal an späterer Stelle vorkommen.

Normalerweise würde nun die Erzählung über das Leben von Johannes beginnen – nicht jedoch bei „Morgen und Abend“. Durch einen kleinen Regietrick verwandelt sich der Säugling Johannes in einem Augenblick zu einem alten Mann. Zu Johannes, dessen Frau und dessen bester Freund Peter schon gestorben sind und der von seiner jüngsten Tochter fürsorglich täglich besucht wird. Rasch wird klar, dass er sich an seinem Lebensende befindet, denn das, was er sagt, pendelt zwischen Fantasie und Realität.

Kongruent dazu bewegen sich die einzelnen Wände seines Hauses samt schlichtem Interieur über dem Bühnenboden auf und ab, um schließlich ganz zu verschwinden. Während sich der alte Mann wundert, dass sich alles „so leicht anfühlt“ und das Blut aus seinen Fingern und Zehen weicht, springen Kinder um sein Bett und verdeutlichen seine Jugenderinnerungen. Mit dem Auftritt seines Freundes Peter gelingt Foss sogar ein komischer Einschub, denn der sterbende Johannes erklärt, dass es höchst an der Zeit wäre, Peters Haare wieder zu schneiden. Der Autor verweist damit auf Situationen, die Menschen, welche demente Patienten betreuen, bekannt vorkommen. Oft möchten diese Aufgaben ausführen, die sie in ihrer Vergangenheit erledigen mussten, aber nun in keinem Realitätsbezug mehr stehen. Das Duett, das Haas für Peter und Johann schrieb, ist berückend schön und wird, wie schon zu Beginn der Oper, von choralartigen Chorpassagen und Glockenschlägen begleitet.

Einen sowohl musikalisch als auch emotional eindrucksvollen Auftritt hat Signe, die Tochter von Johannes in einer Szene, in welcher sie beschreibt, dass „etwas Kaltes auf sie zugekommen und durch sie hindurchgegangen“ sei. Diese Schilderung deckt sich mit Berichten von Hinterbliebenen, die das Ableben von ihnen nahestehenden Personen körperlich spüren konnten, ohne beim Sterbemoment tatsächlich dabei gewesen zu sein.

Jener Moment, in welchem Johann von Peter zu seiner letzten Reise geholt wird, erfährt eine schöne und zugleich kluge Regieumsetzung. Peter lässt Johann auf einem Stuhl Platz nehmen, stellt sich direkt hinter ihn und beginnt diesem die Arme so zu bewegen, als würde er in einem kleinen Boot die Ruder bewegen. Ad hoc denkt man an die antike Überlieferung von Charon, der die verstorbenen Seelen auf dem Fluss Styx ins Jenseits begleitete.

In der letzten Szene, in der sich Johanns Tochter an seinem Grab befindet, spricht sie noch einmal jenen Satz, den ihr Großvater bei der Geburt seines Sohnes zitierte: „Es gibt einen Gott, der ist ganz, ganz weit weg und ganz nah.“ Die Videoprojektionen von zarten, symmetrischen Nebelschwaden, die von einem hellen Licht bekrönt werden und die letzte Feststellung von Johann, der im Loslassen von der Welt auf diese hinunterzusehen scheint, lassen den Tod als etwas erscheinen, vor dem man sich nicht fürchten muss. „Da unten ist es nicht schön“, singt Johann und vermittelt damit ganz den Eindruck, sich in einem Zustand zu befinden, der besser ist als jener, den er auf der Welt vorgefunden hatte.

Roland Kluttig agierte souverän am Dirigentenpult, was besonders bei zeitgenössischen Partituren hervorgehoben werden muss, ist es doch nicht jedermanns Sache, diese treffsicher dem Orchester zu vermitteln. Immo Karamans Regie, Rifail Ajdarpasics Bühnenumsetzung und Fabian Poscas Kostüme erscheinen wie aus einem Guss. Ebenso wie die Lichtgestaltung von Daniel Weiss und das Videodesign von Philipp Fleischer.

Cathrin Lange singt sowohl die Amme als auch die Tochter von Johannes und beeindruckt mit ihrem sehr klaren und festen Timbre bis hin zum letzten, in sphärische Höhen entrückten Ton, der zugleich der letzte der Aufführung ist. Markus Butter ist wohl eine Johann´sche Idealbesetzung. Seine Präsenz, die sich über den gesamten zweiten Teil der Aufführung erstreckt, bleibt ein starker Erinnerungsmoment. Christina Baader als seine Frau Erna und Matthias Koziorowski als Freund Peter ergänzen das Ensemble auf der Bühne mit genauso beeindruckenden Leistungen wie die zuvor Genannten.

Das Publikum dankte mit reichlichem Applaus. Georg Friedrich Haas schuf eine Oper, die trotz der Schwere ihres Themas Suchtcharakter bereithält. Dies vor allem, da seine Musik, die zwischen lichten, sphärischen Höhen und brachial-brutalen Klangmomenten oszilliert, alles aufweist, was hörenswert ist.

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Man soll sich über Ungeborene nicht täuschen

Aurelia Gruber

Nussschale (Foto: Martin Schwanda)
„OGott, ich könnte in eine Nussschale eingesperrt sein und mich für einen König von unermesslichem Gebiete halten, wenn nur meine bösen Träume nicht wären.“
Das Objekt – die Nussschale – hier in einem Zitat aus William Shakespeares Hamlet vorkommend – verwendete der englische Bestseller-Autor Ian McEwan als Titel für seinen neuen Roman. Nun ist „Nussschale“ in einer Dramatisierung in den Kasematten von Wiener Neustadt auf der Bühne zu sehen. Auf den Erhalt dieser Rechte ist Anna Maria Krassnigg, künstlerische Leiterin der „wortwiege“, besonders stolz. In ihrem zweiten Festival-Durchlauf von ‚Bloody Crown‘ brachte sie vor wenigen Tagen das Stück – optisch höchst spektakulär – zur Aufführung.

McEwan hat sich darin intensiv mit der Rolle Hamlets als Sohn einer Frau beschäftigt, die den Vater des Kindes nicht nur zugunsten seines Bruders abserviert, sondern letztlich auch noch vergiftet. „Ein Umstand, dessen Spannung kein Mensch in seinem Leben je auflösen kann“, erläuterte Karl Baratta, Chefdramaturg der ‚wortwiege‘ bei einem Premieren-Einführungsgespräch.

Und tatsächlich kreist das Stück permanent um die Frage von Macht und Ohnmacht, von Recht und Gerechtigkeit, von Eros und Thanatos. Schwere Brocken, möchte man meinen. Aber McEwans subtiler Witz und eine außergewöhnlich fulminant-spannende Inszenierung machen diese Theaterkost verdaulich.

McEwan bediente sich eines köstlichen Tricks, die Gedanken seines Hamlet einzubringen. Er befindet sich noch im Bauch seiner Mutter und trägt noch keinen Namen, ist aber nicht nur hochintelligent und philosophisch begabt, sondern hat auch noch das Glück, jede Menge Nachrichten und Podcasts zu hören, mit welchen sich seine Mutter die Zeit vertreibt.

Nussschale – (Foto: Andrea Klem)
Nina C. Gabriel räkelt sich intrigenspinnend und divenhaft als Trudy, der werdenden Mutter, auf einer Chaiselongue in der Bühnenmitte, malerisch umstreut von allerlei Mist. Zum Aufräumen ist diese Frau nicht geboren. Mal lockt sie ihren Ehemann, dem sie eine Trennung auf Zeit aufgebrummt hat, mal stößt sie ihn ab – immer jedoch ist sie dessen Bruder, ihrem Lover, namens Claude, hörig. So geistlos dieser gegen den Verleger-Vater auch ist, so potent scheint er aber zu sein.

Um das Ungeborene sicht- und hörbar zu machen, drehten Krassnigg und ihr Team in zwei stimmigen Locations Filmaufnahmen mit Flavio Schily als ungeborenem Protagonisten: Sowohl im Inneren des nie in Betrieb gegangenen AKWs Zwentendorf, als auch in den futuristisch gestalteten Behandlungsräumen der Firma Medaustron, die für ihre Behandlungs-Technik Teilchenbeschleuniger einsetzt. Der Gedankengang, diese Drehorte zu verwenden, ist logisch nachvollziehbar. Die Geburt eines Menschen ist auch etwas, das mit einer plötzlichen, enormen Beschleunigung zu tun hat. Letztlich wird ja jeder und jede von uns aus der schützenden Mutter-Hülle hinaus ins Leben katapultiert, ohne im Wesentlichen aktiv diesen Vorgang zu beeinflussen.

Schily steckt in einem hautengen Bodysuit mit orangen Streifen, Moonboots und trägt einen Helm mit sich. Wenn er ihn sich aufsetzt, weiß man, dass seine Mutter – „viel zu spät in der Schwangerschaft!“ wieder mit ihrem Liebhaber in hitzigen Körperkontakt getreten ist. Es sind nicht nur diese humorigen Ideen, die Pfiff in die Filmsequenzen bringen. Der Ungeborene Allwissende zeigt sich sowohl sprachlich als auch mimisch von einer Eleganz und Eloquenz, die seiner Verwandtschaft samt und sonders fehlt. Und er ist ein Beobachter, der das Theaterprospekt auflöst und von diesem nicht nur auf das Geschehen unter ihm auf die Bühne, sondern auch ins Publikum blickt. Minutiös auf Sekunden genau spricht er – leider von seinen Eltern und seinem Onkel ungehört – auf seine Verwandten ein, erklärt so manche charakterliche Blöße, oder kommentiert den Geschmack jener Weine, die er durch die Plazenta schmeckt, wenn seine Mutter sich wieder ein- oder zwei Gläser gönnt. Es ist das reinste Vergnügen, Flavio Schily bei diesem Spiel zuzusehen. Jede Geste, jede kleinste Mimik sitzt, ganz abgesehen von seinem melodiösen und zugleich außergewöhnlich reinen Sprachduktus, von dem man gar nicht genug bekommen kann.

Jens Ole Schmieder gelingt es als Claude, sich innerhalb weniger Augenblicke beim Publikum unsympathisch zu machen. So schmierig wie seine Haare auf dem Kopf anliegen, ist auch sein Charakter. Den Bruder zur Seite zu schaffen ist er flugs dabei, genauso schnell schmiedet er aber auch einen Plan, wie er beim Auffliegen der Tat als völlig unschuldig gelten könnte. Es dauert nicht lange, da kippt das vermeintliche Einvernehmen zwischen ihm und Trudy gefährlich in die Nähe von Misstrauen und Hass.

Martin Schwanda als Trudys Ehemann und Vater des ungeborenen Kindes wartet mit einer Mischung aus verkanntem Künstlergenie und gewitztem, wenngleich gehörntem Ehemann auf. Seine Auftritte sind mit einer gehörigen Portion Humor gesprickt, die aber auch klarmachen, warum Trudy diesen Mann nicht mehr liebt. In seinem Schlepptau hat er die junge Studentin Elodie – hinreißend naiv und tränenüberströmt von Petra Staduan dargestellt. Ab der Mitte des Stückes, nachdem ein Mordkomplott geschmiedet und ausgeführt worden ist, beginnt sich die Schlinge um die Köpfe des Mörderpaares rasant zuzuziehen.

Nussschale (Fotos: Andrea Klem)
Isabella Wolf als elegante Kommissarin mit Karrierewünschen überbringt Trudy und Claude eine Schreckensnachricht nach der anderen, bis sich schließlich auch noch das Ungeborene entschließt, tatkräftig einzugreifen, um zu seinem Recht zu kommen.

McEwans Roman wird in den Kasematten in Wiener Neustadt in eine schwarze Komödie verwandelt, die auch – es sei nicht verraten wie –einen Blick zurück in Shakespeares Zeit wirft. Sie präsentiert darüber hinaus einen aktuellen Zustandsbericht unserer Gesellschaft, die sich offenbar schon länger nicht mehr in einer vermeintlich eleganten Mitte befindet. Schmutzige Immobiliendeals, eine Bevölkerung, die längst das wichtige Bedürfnis des Essens dank Lieferservice nur zu einem kurzen Konsumrausch degradiert, eine entgrenzte Informationsflut, die mehr verunsichert, als informiert sind nur einige Themen, die realitätsnah aufgezeigt werden.

Am Gelingen dieser Inszenierung hat auch Andreas Lungenschmid maßgeblichen Anteil. Sein Bühnenbild – ein Raum, der auf der einen Seite durch eine Bücherwand begrenzt ist und an deren gegenüberliegenden Regalen sich eine Flasche an die andere reiht, ist so gut gemacht, dass die Filmeinspielungen diesen Raum immer wieder optisch verändern.

Fast unmerklich, wenngleich doch mit Witz, geht ein Kostümwechsel vor sich. (Kostüme Antoaneta Stereva) Trudy tauscht nach der Überbringung der Todesnachricht ihres Mannes ihren hellen Morgenrock gegen einen schwarzen. Tatsächlich ist ihr Charakter nicht eindimensional angelegt. Zu oft wird ihr Schwanken zwischen ehelicher Befreiung und Schuld, mit der sie nicht umgehen kann, thematisiert.

„Nussschale“ ist ein gelungenes, aktuelles Theaterstück in der Tradition von Kammerspielen, bedient sich aber ungewöhnlicher zeitgenössischer, theatraler Hilfsmittel. Mit diesen werden Stimmungen und Räume geschaffen, die das Medium Theater und Film miteinander eng verzahnen. „Wir arbeiten ganz in der Nachfolge der ehemals beliebten Kinobühnenschauen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ – O-Ton Krassnigg. Wobei sie nobel nicht erwähnt, dass die hier angewandte Technik diese Grenzen schon so weit sprengt, dass das Publikum zum Teil sogar Wahrnehmungstäuschungen erliegt.

Nussschale(Foto: Martin Schwanda)

Unterstützt wird der Plot durch eine feine Soundkulisse (Christian Mair) und ein ausgeklügeltes Lichtkonzept. (Lukas Kaltenbäck). Ob Beziehungskrimi oder Hamlet-Neuüberschreibung oder einer Mischung aus beiden Genres – wie auch immer man das Stück aufnehmen mag, es schmiegt sich elegant ans eigene Interpretationsvermögen und ist deshalb perfekt geeignet, sich es im Familien- oder Freundeskreis gemeinsam anzusehen.
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Aktuell wie vor 800 Jahren

Aktuell wie vor 800 Jahren

Aktuell wie vor 800 Jahren

Aktuell wie vor 800 Jahren

Aurelia Gruber

„König Johann“ (Foto: Andrea Klem)
Das Surrounding könnte nicht authentischer sein. Die frisch renovierten Kasematten in Wiener Neustadt stammen in ihrem Kern aus dem Mittelalter. Aus jener Zeit, in der der Adel sich in Europa konstituierte und seinen länderübergreifenden Einfluss und seine umfassende Macht in Stellung brachte.
„König Johann“, ein krudes und dramaturgisch etwas verworrenes Frühwerk von Shakespeare, wurde in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts von Friedrich Dürrenmatt überschrieben und gelangte nur wenige Male zur Aufführung.
Man muss schon eine große Portion Selbstvertrauen haben, sich mit diesem Werk in eine neue Ära zu begeben. Dies tat und tut gerade Anna Maria Krassnigg, ihres Zeichens künstlerische Leiterin und Regisseurin, aber auch Autorin, die gemeinsam mit Christian Mair die wortwiege gründete. In Wien Vielen noch als „Salon5“ bekannt, später dann im Thalhof in Reichenau für 4 Jahre beheimatet, bot man Krassnigg nun die Erstbespielung der historischen Gemäuer in Wiener Neustadt an. Begleitet von einer Reihe literarischer Spürhunde – der despektierliche Ausdruck ist hier anerkennend gemeint – stieß sie auf das Drama „König Johann“, welcher der jüngste Bruder von Richard Löwenherz aus dem Geschlecht der Plantagenets war.

Nicht nur, dass Wiener Neustadt seine erste Prosperität dem Lösegeld verdankte, das in Silber für Richard Löwenherz an den Herzog von Österreich ausbezahlt wurde. In Shakespeares Stück kommt Letzterer sogar leibhaftig vor. Als verkommener Kriegstreiber, der den lukullischen Genüssen mehr zugeneigt war als dem humanistischen Gedanken an Frieden.

Krassnigg inszeniert das Stück als aberwitzigen Ritt eines Ablaufes von innerfamiliären Geschehnissen, bei welchem die Blutsverwandtschaft den Eindruck hinterlässt, sich selbst der größte Feind zu sein. Der Kampf um die Aneignung von Ländereien in Frankreich, sowie ganz England, tritt als Schaulauf von Grausamkeiten, Niedertracht und Verrat in Erscheinung: höchst symbolträchtig auf und um einen verkohlten Catwalk. Hinter diesem hat sich ein riesiges Schlachtross in seiner wildesten Drohgebärde aufgestellt und begleitet das Geschehen damit in Permanenz. (Bühne Andreas Lungenschmid)

„König Johann“ (Foto: Andrea Klem)
„König Johann“ (Foto: Andrea Klem)
Die beiden Gegenspieler König Johann und König Philipp – beide aus dem Geschlecht der Plantagenets – agieren als machthungrige Scheusale, die skrupellos einen Krieg anzetteln, bei dem sie wissen, dass tausende Soldaten ihr Leben lassen müssen. Doch auch die Frauen des Clans, der „mafiose Strukturen“ aufweist, wie Krassnigg das Adelsgeschlecht in einem Interview charakterisierte, kommen nicht wirklich gut weg. Entweder stehen sie kurz davor, nach einem wilden, verbalen Schlagabtausch handgreiflich zu werden. Oder sie versuchen die Männer zu manipulieren, um die Krone für ihre eigene Nachkommenschaft zu sichern.

Wie in einem verrückt gewordenen Lebenskarussell wendet sich das Blatt des Schicksals mehrfach. Dennoch steuert die Familiengeschichte haltlos einem unrühmlichen Ende zu. Horst Schily als König Johann und Jens Ole Schmieder als König Philipp spielen beeindruckend zwei höchst kontrapunktische Herrscher. Ersterer als überheblicher Throninhaber, der sich, selbst entscheidungsschwach, von einem „Bastard“ zu vernunftgetriebenen Entscheidungen überreden lässt. Schily spielt mit einer Attitüde, die einem verschlagenen Herrscher innewohnt, der seine eigene Entscheidungsschwäche durch abgehobenes Gebaren überspielt. Während ganz konträr sich Jens Ole Schmieder durch lautstarke Auftritte und überbordendes Testosteron den Geschehnissen dennoch fatalistisch ausgeliefert sieht, aber letztlich als Glücksritter aus den Wirren der Schicksalsumschwünge hervorgeht. Antoaneta Stereva schuf Kostüme die zwischen Eleganz und schäbiger Abgerissenheit changieren und nicht nur die einzelnen Charaktere betonen, sondern Brücken quer über alle Jahrhunderte ins Heute schlagen.

Mit Niko Lukic wurde ein authentischer „Bastard“ besetzt, der stimmgewaltig seine Jugend und seine Vernunft ins Rennen um den Frieden einzusetzen versucht. Als einziger Unbeugsamer wählt er ein Leben in Freiheit ohne Adelsauszeichnung. Blutbesudelt von den angeordneten Peitschenhieben seiner ehemaligen Geliebten, die er verraten hat, zieht er sich letztlich vom Hof zurück. Petra Staduan, die ihn als Blanka zu ihrem Ehemann auserkoren hatte, rächt sich mit einem rockigen „I put a spell on you“, gesungen in ein blank poliertes 50er-Jahre Mikrofon. Jenem Fluch, mit dem Screamin` Jay Hawkings in eben jenem Jahrzehnt zu Weltruhm gelangte. Christian Mair (Musik) nimmt die markante Bass-Melodie auf und lässt mit ihr unterlegt gleich zu Beginn die verfeindeten Familien auftreten. Petra Staduan kämpft in der Rolle als aufmüpfige und lebenshungrige Blanka – entgegen jeder Etikette – selbstermächtigt für ihre Rechte als Frau.

„König Johann“ (Foto: Andrea Klem)

Nina C. Gabriel ereilt nicht nur als Eleonore, Johanns Mutter, ein grausames Schicksal, dem sie erhobenen Hauptes entgegenschreitet. Sie schlüpft auch in die Rolle von „Österreich“ und kommentiert dessen lukullischen Erlebnisse höchst launig während des Treffens, in welchem über das Schicksal der Bürger von Angers entschieden wird. Isabella Wolf tritt sowohl als Constanze auf, der Mutter des Thronfolgers Arthur, als auch als androgyner Kardinal. Mit seinem Bannspruch unterwirft er Philipp und fädelt in weiterer Folge eine neue englische Regentschaft ein. Herzzerreißend bricht sie als Mutter nieder, als sie erfährt, dass ihr Sohn in die Hände der Engländer gefallen ist und berückend und aufklärerisch zugleich erscheint sie als Christus-Nachfolger, der weiß, wie man mit Sog und Druck verführt und zu seinem Ziel kommt.

Julian Waldner verkörpert insgesamt grandios sechs Charaktere. Sein „Bürgervertreter“ mischt sich unter das Publikum und macht diesem klar, dass das, was auf der Bühne verhandelt wird, nicht weniger als jene Zukunft ist, die wir heute Demokratie nennen. Ob als Chatillon oder Pembroke, ob als unglücklicher Arthur, Angouleme oder Mönchlein – mit ihm transportiert Krassnigg in höchstem Maße die Idee, dass ein guter Schauspieler imstande ist, ein Ensemble durch Mehrfachbesetzung numerisch scheinbar aufzumotzen. Die permanenten und oft im Handumdrehen durchgeführten Rollenwechsel, auch von den anderen Mehrfachbesetzungen, sprühen nur so vom Geist eines lebendigen, blutvollen Theatergedankens. Einer Vermittlungsidee großer Stoffe, die durch hervorragende Schauspielende sinnlich erfahrbar und nachvollziehbar wird.

Der Wunsch, dass Theater imstande sein soll ein Nach-Denken anzuregen, dieser Wunsch geht in dieser Inszenierung auf. Denn egal, ob man allen Familienverstrickungen folgen kann oder nicht: Das Spiel um die Ränke der Mächtigen, um Vernunft und Unvernunft und letztlich um eine Bürgerschaft oder ein Volk, das mehr ist als die, die es regieren, hinterlässt starke Eindrücke. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass König Johann vor mehr als 800 Jahren verstarb und vermeintlich in unserem Leben keine Rolle mehr spielt.

„König Johann“ (Foto: Andrea Klem)

Die wortwiege zeigt noch bis Anfang April „König Johann“. Vor einzelnen Vorstellungen trifft Anna Maria Krassnigg auf Gäste aus dem In- und Ausland, um mit ihnen über das Thema des diesjährigen Festivals „Bloody Crown“ zu diskutieren.

Alles Infos hier: www.wortwiege.at

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Auf dem Highway to hell mit der Ukulele im Gepäck

Auf dem Highway to hell mit der Ukulele im Gepäck

Ukulele Orchestra of Great Britian • Foto: Allison Burke

Very british kommen sie auf die Bühne. Mit stoischem Gesichtsausdruck nehmen sie Platz und begrüßen erst einmal das Publikum im Festspielhaus St.Pölten. Noch ist nicht die Hölle los – aber zumindest vorausprogrammiert. Das wissen jedoch nur jene, die schon einmal bei einem Konzert der Ukulele Band aus Großbritannien dabei waren.

1985 war der erste Auftritt als reiner Spaß-Gig gedacht. Da er aber dermaßen gut ankam, setzten die Gründer des Ensembles ihre Auftritte kurzerhand mit den „Bonsai-Gitarren“ fort. Heute, nach 35 Jahren, ist ein Großteil der damaligen Mitglieder noch immer dabei. Der Unterschied ist nur, dass sie heute, im Gegensatz zum Beginn, große Häuser wie die Carnegie-Hall oder das Sydney Opera House füllen oder mal schnell bei der privaten Geburtstagsparty der Queen auftreten.

Das Oktett besteht aus 2 Frauen und 6 Männern und hat sich zur Aufgabe gemacht, sein Publikum zu überraschen. Das Ensemble möchte, dass jene, die nicht ganz freiwillig in ihr Konzert kommen und befürchten, eineinhalb Stunden langweilige Ukulele-Klänge über sich ergehen lassen zu müssen, danach zu Fans geworden sind.

Aus diesem Grund besteht das Programm aus einer gelungenen Mischung aus gecoverten Pop- und Rocksongs, aus jazzigen Nummern, Filmmusik und sogar einigen klassischen Stücken. Einer ihrer all-time-hits ist Ennio Morricones Lied aus „The good, the bad and the ugly”, im Gegensatz zum Original kommt es jedoch ohne jegliche künstliche Geräusche und Klänge aus. Alles was zu hören ist, sind Ukuleles und menschliche Stimmen. Und das funktioniert riesig gut. Genauso wie „Hotel California“ von den Eagles oder „I will survive“ von Gloria Gaynor. Mit jedem neuen Stück wird die Stimmung im Saal weiter angeheizt, denn bei diesem breit gefächerten Angebot ist für jeden und für jede etwas dabei.

„Sweet dreams“ von Eurythmics gehört zu jenen anspruchsvollen Ohrwürmern, bei welchen die Briten so richtig zeigen, was sie stimmlich draufhaben, denn die perfekt arrangierten, komplizierten Akkorde kommen rein und dicht zugleich und gehen durch die Ohren wie Samt und Seide. Die Ansage, dass sie sich für den Brexit entschuldigen und sich nicht erklären können, was in Großbritannien derzeit politisch gerade abgeht, nimmt man ihnen aufs Wort ab. Sind sie doch nun seit 35 Jahren im Showbusiness auf der ganzen Welt vertreten. „There is more which unites us then divides us“ – lassen sie an anderer Stelle noch einmal wissen und bekommen dafür langen Applaus.

Der feine britische Humor, den sie mitgebracht haben, sorgt auch für jede Menge Lacher. Vorzugsweise bei ihrer Interpretation von „Every breath you take“ von Police. Sie seien bei einem Besuch im Silicon Valley draufgekommen, dass dies das Lieblingslied von Marc Zuckerberg sei. Wer das gehört hat, kann den Song nie mehr ohne Dauerschmunzeln genießen – probieren Sie es einfach selbst aus!

Bald danach mutiert ein Stück von Georg Friedrich Händel zum 7-stimmigen Kunstwerk. Das clevere Arrangement schafft es, die Grundharmonieabfolge des Barockmeisters mit sieben verschiedenen Nummer 1 Hits zu unterlegen. Nicht enden wollender Applaus belohnte diese tolle Idee und hinreißende Ausführung. Mit AC/DCs „highway to hell“ rockte der Saal schließlich ohne Ende und nach dem finalen Song – „Heroes“ von David Bowie – wurde das Ukulele Orchestra of Great Britain mit Standing ovations bedacht. Ein Abend vollgepackt mit Ohrwürmern, aber auch Unerwartetem sowie jeder Menge Spaß. Great!

Eine brisante Auszeit

Eine brisante Auszeit

Eine brisante Auszeit

Aurelia Gruber

 
TAG „Der Untergang des österreichischen Imperiums“ (Foto: Anna Stöcher)
19.
November 2018
Sie treffen sich abseits der hektischen Großstadt einmal im Jahr am Semmering. Um sich „gegenseitig zu helfen“, das jeweils abgelaufene Jahr Revue passieren zu lassen und – um ihre Wunden zu lecken. Vier Frauen und vier Männer – allesamt der schreibenden Zunft angehörend – erleben im TAG eine Auszeit von ihrem Alltag, die alles andere als erholsam ist.

Ed Hauswirth erarbeitete mit dem Ensemble ein Kammerspiel, das sich formal an jenem Genre orientiert, in dem die Risse von Partnerbeziehungen während einer Einladung im Freundeskreis offenbar werden.

In seinem Stück „Der Untergang des Österreichischen Imperiums oder Die gereizte Republik“ legt er aber vor allem den Finger auf den politischen Umbruch in unserem Land und die Auswirkungen, die sich dadurch auf die vierte „Macht“ im Staat ergeben. Dabei gibt es Gewinner und Verlierer. Letztere gehören dem linken Intellektuellen-Establishment an, erstere, jung und machtgeil, sind die Karriereleiter im Zuge von politischen Medienumfärbungen rasant nach oben geklettert. 

Was sich anfänglich durch eine lange Vorstellungsphase der einzelnen Charaktere ein wenig in die Länge zieht, nimmt ungefähr ab Mitte des Stückes an Fahrt auf. Nachdem klar ist, dass sich eines der Paare in Trennung befindet und ein anderes in seiner Langzeitbeziehung nicht mehr wirklich wohl fühlt, dass sich in der Konstellation Alt und Jung zwangsläufig unterschiedliche Familienentwürfe offenbaren und gescheiterte, verlegerische Unternehmungen Auswirkungen auf die Lebensumstände einiger Anwesender haben, fährt Hauswirth die politischen Geschütze auf. Und die sind wesentlich interessanter als die sehr stereotyp angelegten Paarkonstellationen.

TAG „Der Untergang des österreichischen Imperiums“ (Foto: Anna Stöcher)
TAG „Der Untergang des österreichischen Imperiums“ (Foto: Anna Stöcher)

Die Macht im Staat – von links nach rechts gewandert – tut, was sie immer tut: Sie hebelt bei dem einen oder anderen Prinzipien aus, die sich aufgrund von finanziellen Notständen oder auch der Aussicht auf mehr Einfluss, flugs wandeln. Da mutiert Jens Claßen innerhalb von wenigen Augenblicken zum opportunistischen, aber gut bezahlten Journalisten, während Monika Klengel (Linde) sich ärgert, nicht von ihrem einstigen Redaktions-Schützling Markus und nunmehrigen Blatt-Chef (Raphael Nicholas) für einen Posten vorgeschlagen worden zu sein. Zumindest Georg Schubert und Lorenz Kabas kämpfen nach anfänglichen Verführungsattitüden tapfer mit ihrem Gewissen, wohl wissend, dass sie ab sofort auf der finanziellen Verlierer-Bank Platz nehmen dürfen. Interessanterweise sind es die Frauen, Beatrix Brunschko als Barbara, Lisa Schrammel als Birgit und Juliette Eröd als Dora, die eine Standhaftigkeit an den Tag legen, die den Männern zuweilen abhanden gekommen ist. 

Filmeinspielungen, in denen die Freundinnen beim Joggen auf Forstwegen, oder die Männer beim gemeinsamen Kochen gezeigt werden, verschränken das Geschehen mit jenem auf der Bühne und setzen eine ländliche Idylle gegen ein Wien, das voll Militär ist und sich im Ausnahmezustand befindet. Dass sich die Handys, gemäß der Tradition, im versperrten Safe befinden, und keinerlei Internetzugang möglich ist, hebt das Wohlbefinden der kleinen Gruppe auch nicht wirklich.

So sind die Kontrahenten und Kontrahentinnen gezwungen, ihre Scharmützel direkt auszutragen, bis hin zum Showdown zwischen Linde und Markus, den sie dank ihrer überragender Kampf-Technik blutig prügelt. Doch was nach moralischem Happyend aussieht, wischt Markus, der Machtmensch, mit blutverschmierten Fingern vom Tisch. Er, der an der Macht Partizipierende weiß nur zu gut, dass diese Niederlage seinen weiteren, beruflichen Aufstieg nicht bremsen wird. Die Vergangenheit, der alle nachtrauern, ist ein für alle Mal vergangen. Das politische Blatt hat sich gewendet und wird bis in eine nicht absehbare Zukunft sich so schnell auch nicht wieder drehen. Was macht da schon eine blutige Nase?

TAG „Der Untergang des österreichischen Imperiums“ (Fotos: Anna Stöcher)

„Der Untergang des Österreichischen Imperiums“ ist eine Mischung aus Gesellschaftskomödie mit einer dystopisch anmutenden, politischen Gegenwartsbeschreibung und changiert dementsprechend zwischen diesen Polen. Die Inszenierung macht klar, dass sich Österreich in einem Zustand befindet, mit dem sich viele zwar noch nicht abfinden wollen, Ressentiments oder gar Trauer völlig nutzlos sind. Wer dem  einen Hoffnungsschimmer entnehmen will, muss sich schon am rechten Rand des politischen Spektrums wohlfühlen.

 

 

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