Eine Absurdität, die schmerzt

Eine Absurdität, die schmerzt

Elisabeth Ritonja

Foto: ( Julia Kampichler )

6.

März 2023

Der Regisseur Florian Thiel brachte mit „Audienz“ ein Stück von Vaclav Havel geistreich und krachend zugleich zurück auf eine österreichische Bühne. In den Kasematten von Wiener Neustadt erlebte es beim Festival „Europa in Szene“ eine umjubelte Premiere.

Es gibt zwei Sätze und ein Nein, welche in aller Kürze eine Zusammenfassung für den Einakter bilden könnten, den Václav Havel an den Beginn seiner Vaněk-Trilogie setzte. Die beiden Sätze sind: „So bin ich erzogen“ sowie „Ich kann mich doch nicht selbst denunzieren“ und ein klares Nein folgt auf die Frage der Bierbrauerin, ob er, Ferdinand Vaněk, der Schriftsteller, der in ihrer Brauerei schuften muss, Kinder habe. In diesen Sätzen spiegelt sich wider, wie der junge Vaněk gestrickt ist und warum er so agiert, wie er agiert. Warum er das Angebot nicht annimmt, seine Arbeitsbedingungen zu erleichtern und warum er stattdessen lieber weiter körperlich schuftet, ohne Zeit zu haben, geistig zu arbeiten.

Havels Kunstfigur Ferdinand Vaněk muss als oppositioneller und damit unerwünschter Schriftsteller der Arbeit als Fass-Roller in einer Brauerei nachgehen, was er zur Zufriedenheit aller auch tut. Eines Tages wird er zum Braumeister gerufen. In Thiels Interpretation ist es eine Braumeisterin, womit ausgedrückt wird, dass das Agieren dieses Charakters nicht geschlechterspezifisch ist. Vaněk, der Alkohol verschmäht, weiß nicht, was ihn bei der Unterredung erwartet.

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„Audienz“ (Foto: Julia Kampichler)

Thiel lässt sowohl Nico Dorigatti in der Rolle Vaněks als auch Alexandra Schmidt in der Rolle der Braumeisterin extrem körperintensiv arbeiten. Verrenkt liegt die junge Frau, benommen wohl vom schon genossenen Alkohol, gleich zu Beginn auf einem Sessel, während ihr Angestellter mehrfach versucht, sich ihr zu nähern. Immer jedoch wird er wie von Krämpfen gebeutelt, sodass er zu Boden fällt, um sofort darauf einen neuen Anlauf zu nehmen. Unterstützt wird dieser szenische Einstieg von einer Musikeinspielung von Oscar Böhm. Ein dramaturgischer Schachzug, der sich später in abgewandelter Form wiederholen wird. Ohne noch ein Wort gesprochen zu haben, kann man verstehen, dass hier zwei unterschiedliche Charaktere aufeinandertreffen. Die Braumeisterin, die durch Alkohol ihr Gewissen betäubt und die versucht, menschenverachtende Anweisungen des Regimes auszuhalten und abzumildern und der junge Intellektuelle. Er, von Natur aus ruhig und bescheiden, wird von den Repressalien, die nicht nur ihn treffen, fast aus der Bahn geworfen. Aber nichts liegt ihm ferner, als aufzufallen oder anderen Menschen zu schaden. So viel Slapstick auch in der ersten und in weiteren Szenen steckt, so bedrückend, ja schmerzhaft kann diese physische Clownerie auch empfunden werden.

Im Laufe der Unterredung, bei der, ganz zum Leidwesen Vaněks, in Strömen Bier fließt, gibt seine Vorgesetzte ihm zu verstehen, dass sie sich für ihn einsetzen möchte, was eine Dankeskaskade bei ihm auslöst. Solange, bis es der Braumeisterin zu viel wird und sie ihn anherrscht, sich nicht dauernd zu bedanken. „So bin ich erzogen“, antwortet der junge Mann und man darf annehmen, dass dies Worte sind, die Václav Havel sich selbst oft nicht nur gedacht, sondern wahrscheinlich anderen gegenüber tatsächlich auch ausgesprochen hat.

Bis zu seinem 12. Lebensjahr war Havel in einer großbürgerlichen, angesehenen Prager Familie aufgewachsen. Vater, Onkel und ein Großvater waren erfolgreiche Bauunternehmer, der Großvater mütterlicherseits Diplomat in Wien. Im Jahr 1948 wurde jedoch der gesamte Besitz der Familie konfisziert und Vater und Mutter mussten sich als Sekretär und Fremdenführerin verdingen. Dass dieser Lebensumsturz in dem Jungen, der nach der Schulpflicht aufgrund seiner bourgeoisen Herkunft keine weiterführende Schule besuchen durfte, tiefe seelische Spuren hinterlassen hat, liegt auf der Hand. Aber auch, dass er eine Erziehung genossen hatte, die für sein gesamtes Leben prägend sein sollte. Havel galt zwar als scheu, aber überaus höflich.

Mit Ferdinand Vaněk schuf er sich ein literarisches Alter Ego. Der Autor und Dramatiker, ist den Menschen unserer Tage jedoch hauptsächlich als jener Mann in Erinnerung geblieben, der als erster Präsident der Tschechoslowakei und nach dem Zerfall des Staatenbundes als erster Präsident Tschechiens in die Geschichte Europas einging. Dass er als Dissident dazu beitrug, das menschenverachtende Regime 1989 zu Fall zu bringen, ist auch noch den meisten Menschen in Österreich bekannt. Dass seine Dramen – sieben davon – unter der Leitung von Achim Benning am Burgtheater uraufgeführt wurden, wissen schon weitaus weniger. Der Schriftsteller, der sein Land während einer gewissen Zeit nicht verlassen wollte, in der Angst, nicht mehr zurückkehren zu können und später wegen seiner Inhaftierung nicht verlassen konnte, war bei keiner der Aufführungen anwesend. Beklatscht konnte er dennoch gemeinsam mit dem jeweiligen Ensemble werden, da vom Schnürlboden eine Tafel mit seinem Namen abgesenkt wurde. Havel bezeichnete die Burg in einer außergewöhnlichen Sprachschöpfung als sein „Muttertheater“. Die Analogie zur Muttersprache liegt dabei auf der Hand und kann als etwas Essenzielles, Lebensnotwendiges verstanden werden, was es für Havel tatsächlich war.

Die Sätze, die Vaněk in „Audienz“ spricht, bis hin zur Erklärung an die Braumeisterin, dass er vier Semester Ökonomie studiert habe und dass er ihr Angebot der Arbeitserleichterung nicht annehmen könne, denn er könne sich ja nicht selbst denunzieren – entsprechen biografischen Tatsachen. Havel musste, mit Aufführungsverbot belegt, in einer Brauerei arbeiten und hat sich, trotz schwerster Menschenrechtsverletzungen ihm gegenüber und trotz Gefängnisstrafe nie verbogen oder gar angedient.

In einem großartigen Monolog, in welchem Alexandra Schmidt alle Register ihres Könnens zieht, macht die Braumeisterin klar, in welchem Dilemma sie steckt und wie sehr sie die Ablehnung Vaněks missbilligt. Er, der intellektuelle Schriftsteller, sosehr er im Moment auch gedemütigt würde und am Boden sei, er fände zumindest Beachtung und stünde im Rampenlicht. Sie aber würde niemand kennen und müsse erdulden, was an sie an Ungerechtigkeit herangetragen wird. Dieser Monolog gehört zu den beeindruckendsten der neueren Literaturgeschichte. Wird doch deutlich, dass Havel, selbst Opfer und lebensbedrohlich unterdrückt, sich dennoch empathisch in sein Gegenüber versetzen konnte. Ja, dass er verstand, warum Menschen wie die Braumeisterin so handeln, wie sie handeln. Die charakterliche Größe, die hinter diesem Stück Literatur steckt, ist schier unermesslich.

Oft fragen sich Menschen, wie sie in Zeiten von Regimen agiert hätten oder agieren würden, ohne eine endgültige Antwort darauf zu bekommen. Und auch dafür liefert Havel eine Erklärung, wie Mitläufertum unter einer menschenverachtenden Regierung, zustande kommen kann. Es ist die Sorge um die eigene Familie, die Pflicht, seine Kinder bestmöglich zu erziehen und ins Leben zu begleiten. Mit der Verneinung Vaněks auf die Frage, ob er Kinder habe und dem Hinweis, dass die Braumeisterin selbst drei habe, weist er gezielt auf diesen Umstand hin.

Es ist nicht nur die exzessive Spielweise, die einem beim Zusehen den Atem raubt. Wie Nico Dorigatti das Bier aus Mund und Nase fließt, dass es nur so fontänenartig durch die Gegend spritzt und den Bühnenboden zu einem glitschigen, gefährlichen und haltlosen Untergrund verwandelt, ist ein wunderbarer Regie-Einfall. Florian Thiel lässt neben Vaněk und der Braumeisterin noch eine dritte Person auftreten. Eine junge, hübsche Frau, die sich stumm den beiden in ihren Alkoholexzessen nähert. Einmal wirkt sie anziehend, dann Liebe verströmend, ein anderes Mal hart und bedrohlich. Letztlich liegt sie wie leblos am Bühnenrand, ohne von den anderen beachtet zu werden. Die Rolle von Sophie Borchardt kann unterschiedlich ausgelegt werden. Man kann in ihr jene berühmte Schauspielerin erkennen, in welche die Braumeisterin all ihre Zukunftshoffnungen projiziert, dann erscheint sie als Verkörperung jener Dauerüberwachung, die in der CSSR üblich war. Schließlich verkörpert sie aber auch jene Idee, an welcher sich Vaněk immer wieder hochrappelt. Jenes Gerechtigkeitsprinzip, das für ihn über allem und über alle steht, sogar über ihm selbst.

Die allerletzte Szene hat Thomas Bernhardt´sche Charakterzüge. Stellt sie doch mit einem Augenblick all das auf den Kopf, was zuvor gesagt, getan und wahrgenommen wurde. Mit einem einzigen Wort und einer einzigen neuen Attitüde – nämlich die eines Bier trinkenden Vaněks – beginnt das Stück noch einmal von vorn. Dieses Mal jedoch mit gänzlich anderen Vorzeichen. Vaněk brüllt roh und rüpelhaft der Braumeisterin auf die Frage, wie es ihm gehe „Scheiße“ entgegen. Der darauffolgende wilde Zug an der Flasche und das polternde Aufstellen derselben am Tisch, dass sich der Gerstensaft in einer hohen Fontäne aus ihr ergießt, machen klar: Die Geschichte wird noch einmal erzählt, aber anders. Es wäre nicht Havel, hätte er damit nicht auch sein eigenes Handeln, seine zurückhaltende Art, die niemandem wehtun möchte, infrage gestellt. Womit er sich in eine jahrhundertealte Geistestradition einreiht. Der große Humanist und Philosoph Michel de Montaigne stellte schon im 16. Jahrhundert fest, dass es keine unumstößlichen Wahrheiten gäbe und dass man stets die eigene Meinung hinterfragen müsse. Die beiden Männer hätten sich sicherlich viel zu sagen gehabt.

Dass „Audienz“ heute nichts an Aktualität eingebüßt hat, wobei wir nicht in die Ukraine, nach Russland, China oder in den Iran blicken müssen, ist bedrückend. Umso wichtiger ist es, sich mit diesen Phänomenen auseinanderzusetzen.

Diese Möglichkeit bietet das Festival „Europa in Szene“ mit vielen begleitenden Diskursformaten noch bis zum 2. April.

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