Manchmal kommt es vor, dass man mit etwas ganz unerwartet konfrontiert wird, das in einem selbst etwas auslöst, das gar nicht richtig in Worte zu fassen ist. Als Kulturredakteurin habe ich öfter schon dieses Phänomen erleben dürfen. Immer dann, wenn bei mir große Emotionen ausgelöst werden, habe ich die direkte sensorische Rückmeldung gerade etwas zu erleben, das für mich wichtig ist. Sonst wäre ich nicht so berührt. Häufig erlebe ich diese Momente in Konzerten, aber auch in wenigen Theatervorstellungen. Selten noch in einer zeitgeschichtlichen Präsentation, aber nun war es tatsächlich auch hier einmal soweit.
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Einen dieser Momente erlebte ich bei der kleinen „Pop-up-Ausstellung“ „Geschichte Willkommen“, die im Rahmen des ersten Festivals „Soho in Ottakring“ auf die Beine gestellt wurde. Mit „Pop-up“ untertitelten die Veranstalter ihre Ausstellung deshalb, weil sie gerade einmal zwei Wochen zu sehen war und auch während dieser beiden Wochen einem ständigen Wandel unterlag. Kazuo Kandutsch – Historiker, Kurator für Geschichte und zeitgenössische Kunst, Christiane Rainer – Museologin, Historikerin, selbstständige Ausstellungsmanagerin und Katrin Sippel – Historikerin, Übersetzerin und Lateinamerikanistin bildeten das Kernteam dieser Unternehmung. Dominik Hruza – Grafiker und Ausstellungsgestalter und Lisa Rastl – freiberufliche Fotografin und Künstlerin ergänzten mit ihren Fachkompetenzen das Leitungsteam, das sich für ihre Idee auf besondere Weise richtig ins Zeug gelegt hatte.
Die Idee dahinter ist kurz erklärt: Der Sandleitenhof, mit dessen Bauarbeiten 1924 begonnen wurde, war das größte Wohnbauprojekt der Gemeinde Wien in der Ersten Republik. Eine Stadt in der Stadt, wäre eigentlich seine richtige Bezeichnung, denn er beherbergte 1587 Wohnungen, zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen wie zum Beispiel den größten Kindergarten Europas, eine Volksbibliothek – die heute noch als Städtische Bücherei existiert – und einen für 600 Personen angelegten Kino- und Theatersaal. Darüber hinaus gehört auch der gegenüberliegende Kongresspark sowie das benachbarte Kongressbad, das 1928 eröffnet wurde, zur Infrastruktur. In seiner Blütezeit waren 75 Geschäfte, ein Postamt, ein Caféhaus und eine Apotheke ansässig sowie 58! Werkstätten. Ein unglaubliches Projekt, mit einer Nachhaltigkeit bis in unsere heutigen Tage. Doch viele, die jetzt in Sandleiten wohnen, haben keine Ahnung mehr von der wechselvollen Geschichte dieses Gemeindebaus und seiner Bewohnerinnen und Bewohner. Höchste Zeit also, darauf einmal aufmerksam zu machen und zwar nicht irgendwo in einem abgeschotteten Bezirksmuseum. Nein, als „mittendrin statt nur dabei“ könnte man die Location charakterisieren. Denn die Ausstellung „Geschichte Willkommen“ fand in den Räumlichkeiten des ehemaligen Kinos des Sandleitenhofes statt. Bis in die 60er Jahre wurden dort Filme vorgeführt, liebevoll in der Ausstellung mit den historischen Filmplakaten dokumentiert, die links und rechts des Stiegenaufgangs platziert worden waren. Danach beherbergte das Kino viele Jahre lang eine Konsum-Filiale, bis zur Auflösung dieses Unternehmens im Jahr 1995. Noch heute ist vielen Menschen, die in Sandleiten wohnen, diese Konsumfiliale in Erinnerung geblieben. Eines der Ausstellungsstücke bezog sich auch direkt auf diese Nutzung. Eine ehemalige Konsumangestellte hatte von ihren Kolleginnen anlässlich ihrer Pensionierung ein Fotoalbum erhalten, in welchem einige Schnappschüsse aus ihrer aktiven Konsum-Zeit verewigt worden waren. Heute ein wunderbares zeithistorisches Dokument, an dem sich der Gemeinschaftssinn der damaligen MitarbeiterInnen in besonderer Weise zeigt. Präsentiert wurde dieses persönliche Kleinod – wie alle anderen Leihgaben auch – in einer Pultvitrine, zusammen mit anderen Fotos, die Menschen vor Ort in Sandleiten zeigen – inklusive eines alten Fotoapparates.
Aber nicht nur Fotos brachten die Menschen in die Ausstellung. Vom Team dazu aufgerufen, vorbeizubringen, was die Bewohnerinnen und Bewohner von Sandleiten in ihrer Geschichte mit dem Ort verbindet, kam auch ein alter Teddybär in die Ausstellung. Wie dem Erklärungstext zu entnehmen war, war er vor über 60 Jahren von der Tante des Leihgebers selbst genäht worden. Gleich daneben fand eine kleine Puppenwiege, aber auch alte, hölzerne Skibrettln ihren Präsentationsplatz. Allesamt Artefakte, für welche Leihverträge ausgehändigt, persönliche Notizen verfasst und Fotos der Leihgebenden angefertigt wurden. Zu Dokumentationszwecken, aber vor allem auch, um den Leihgaben selbst noch ein menschliches Gesicht hinzuzufügen. Auf diese Art und Weise entstand auch eine Portraitserie, in welcher die Frauen und Männer mit ihren Leihgaben zu sehen sind. Stolz präsentieren sie diese, ganz im Bewusstsein ein jeweils gewichtiges Stück selbsterlebte Historie beigesteuert zu haben, das nun anderen Menschen in einem Umfeld präsentiert werden kann, welches den einzelnen Objekten eine neue, erweiterte Dimension hinzufügt. Ein älteres Ehepaar hatte es sich nicht nehmen lassen und brachte das Metallgestell eines Einkaufswagens in die Schau. Eigentlich hätte sie gerne den Stoff dazu repariert aber beim Vergleich mit dem Preis einer Neuanschaffung diese Idee dann doch fallenlassen. So simpel und vielleicht auf den ersten Blick wenig spektakulär dieses Ausstellungsstück erscheinen mag, so erzählt doch die Idee des Leihgeberpaares eine ganze Menge über deren Einstellung zu unserer Wegwerfgesellschaft aber auch zu ihrer eigenen Geschichte. Nicht nur, dass dieses einfache Gestell eine ganze Reihe an Jahren in sich trägt, in welchen es treue Dienste zur Besorgung von Lebensmitteln leistete. Es ist auch Sinnbild eines höchst ökologischen Umganges mit Ressourcen und somit ein Fingerzeig in eine Zukunft, in welcher durch aktives Tun und Unterlassen so manche ökologische Sünde von Vornherein gar nicht erst zustande kommen müsste.
So ganz nebenbei erfuhren alle Leihgeberinnen und -geber wie eine Ausstellung gestaltet werden kann, welche Vorarbeiten dabei notwendig sind und wie sehr gerade in diesem Fall das Gelingen der Unternehmung von jenen abhing, die sich bereit erklärten, ihre Erinnerungsobjekte beizusteuern.
Neben vielen ganz persönlichen Stücken war es aber eine besonders gestaltete Vitrine, die viele Besucherinnen und Besucher hoch emotional empfanden. Gezeigt wurden darin die Fotos des Ehepaares Lothar und Hermine Dirmhirn, die wegen der Verbreitung kommunistischer Schriften angeklagt, zum Tode verurteilt und schließlich auch am selben Tag, dem 26.2.1943 im Landesgericht Wien hingerichtet wurden. Abschriften ihrer letzten Briefe, die sie an die Ziehmutter ihrer Tochter verfassten, zeigten in einem Ton der innigsten Bitte, ihre letzten Anstrengungen, die Erziehung ihrer Tochter in einem geordneten familiären Umfeld zu wissen. Die daneben platzierte Medaille das „Ehrenzeichen für die Verdienste um die Befreiung Österreichs“ wurde dem Paar posthum vom Staate Österreich verliehen und vom Enkel der Ermordeten zur Verfügung gestellt. Die Inszenierung dieser Dokumente wurde durch einen Ordner ergänzt, in welchem alle Schriftstücke zum Fall Dirmhirn nachgelesen werden konnten. Die schwarze, einfache Lampe, die über dem Tisch aufgehängt worden war und der etwas abseits gelegene Leseplatz erzeugten eine ganz eigene Stimmung, in der die Beklemmung spürbar wurde, welche das Ehepaar erlebt haben mag. Eine kleine Art Verhörzimmer, ganz subtil gestaltet, dessen grauenhafte Ausstrahlung dennoch so unter die Haut ging, dass vielen Besucherinnen und Besuchern anzusehen war, wie sehr sie das Gezeigte betroffen machte. Ohne aufgesetztes Pathos, nur durch die Präsentation nüchterner Dokumente gelang es dem Ausstellungsteam hier die Menschen zu fesseln und sie anzuregen, über die Vergangenheit, vielleicht aber auch die Gegenwart und Zukunft nachzudenken. Sich darüber Gedanken zu machen, wie fragil die Freiheit in einer Gesellschaft wird, in der Andersdenkende zu Feinden erklärt werden. Darüber zu reflektieren, welches Leid autoritäre Regime über die Menschen bringen und welche Möglichkeiten dem einzelnen Individuum bleiben, sich gegen solche doktrinären Verfassungen zur Wehr zu setzen.
Den Abschluss gestaltete Herr Fredy Pietsch, ehemaliger Schriftsetzer und gleich alt wie der Sandleitenhof selbst. 1925 geboren, ist er einer der wenigen noch lebenden Zeitzeugen, welche den Aufbau des Gemeindebaues und die verschiedenen politischen Entwicklungen miterlebte und heute noch in frischer Erinnerung darüber berichten kann. Bewundernswert, wie er seinen einstündigen Vortrag so lebendig gestaltete, dass das zahlreiche Publikum bis zur letzten Minute höchst aufmerksam seinen Erzählungen zuhörte. Von den Bauarbeiten des Sandleitenhofes selbst bis hin zu seiner Heimkehr aus dem Krieg spannte sich sein Erzählbogen, voll gespickt mit persönlich Erlebten. Oral history vom Feinsten.
„Geschichte Willkommen“ – so klein und unspektakulär diese Ausstellung im laut tönenden Wiener Ausstellungsgeschehen auch auftrat – war ein Musterbeispiel an funktionierender Vermittlung zeitgenössischer Geschichte, welche die Menschen in mehrfacher Hinsicht dort abholte, wo sie zuhause sind.
Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Sandleitenhof
https://www.sohoinottakring.at/