Der Titel trügt nicht. Der erste Eindruck, dem der belgische Choreograph Koen Augustijnen bei seiner aktuellen Arbeit folgte, einem Aschenbelag, der sich nach dem Ausbruch des Vulkans Pinatubo auf den Philippinen auf die Häuser der umliegenden Dörfer gelegt hatte, bildet den Ausgangspunkt, und das Kernthema von Ashes. Asche, zwischen den Fingern verrinnend, sieht Augustijnen als Symbol der Vergänglichkeit, als Symbol des nicht Aufhaltbaren. In seinem neuesten Tanzstück, aufgeführt vom „Les ballets C de la B“ im Maillon in Straßburg arbeitet er menschliche Empfindungen und Beziehungen auf, die sich nach Dramen jeglicher Art wieder neu bilden und formieren müssen.
Tanzstück muss zwar als Überbegriff, als Formel für diese Aufführung herhalten, aber der Begriff Tanzstück greift zu kurz. Diese Performance geht weit darüber hinaus. Sie ist eine Verschmelzung von live gespielter Musik und vielen, vielen schon als akrobatisch zu bezeichnenden Einlagen, die durch eine stringente Choreographie zusammengehalten werden. Eine wilde Detonation gleich zu Beginn, wirft die auf der Bühne stehenden Menschen zu Boden. Bis auf eine Figur bleiben alle regungslos liegen und beginnen erst im Laufe der kommenden Minuten wieder an Leben zu gewinnen. Deformiert sind sie nun jedoch alle, der oder die eine mehr oder weniger, unbeschadet blieb niemand. Konvulsivische Zuckungen, krampfhafte, rasche Bewegungen, Sprach-ver-störungen, hysterische Laufattacken – niemand blieb von der Macht des Unglücks verschont. Was Koen Augustijnen hier aufzeigt, muss nicht unbedingt auf ein kollektives Schicksal zurückgeführt werden. Jede und jeder von uns erlebt persönliche Katastrophen, aber selten fragen wir uns, welche Deformationen sie bei uns ausgelöst haben.
Auf der Bühne wird sichtbar, was geschieht. Vereinsamung, Liebesunfähigkeit, das Ausweichen in eine andere „verrückte“ Welt aber auch Versuche, sich koste es, was es wolle an jemanden zu binden, all das resultiert aus seelischen Verletzungen und Verlust. Das architektonische Bühnenbild von Jean Bernard Koeman – im linken Bereich eine kleine Hütte, in der Mitte ein einstöckiges Haus, das über dem Erdgeschoss mit einer offenen Veranda eine große Terrasse zeigt – ist schlicht und dennoch zweckmäßig. Es mutiert im Laufe des Abends zu spektakulär verwendeten Turngeräten. Wenn, wie sonst nur im Film, mit Trickaufnahmen hergestellt, eine Fassadenerkletterung zu sehen ist. Hier, in dieser Vorführung funktioniert sie live. Wenn nacheinander einige der Tänzerinnen und Tänzer sich in einem offenen Schacht, ein wenig breiter als ein Menschenkörper, ohne Hilfsmittel, nur mit gespreizten Beinen vom ersten Stock auf den Boden herabgleiten lassen. Wenn sich einer der Tänzer mit einem Handstand vom Hüttendach auf den Bühnenboden katapultiert um dort in einer anschließenden Abrollbewegung die Wucht des Schwunges ausklingen zu lassen. All das ist atemberaubend und schön zu gleich. Aber all diese Elemente verkommen nie zum gymnastischen Selbstzweck, sondern sind eingebunden in eine rasche Abfolge von Bildern und Bewegungen, die eine Fülle von Eindrücken hinterlassen.
Wie die verrückt gewordene Frau, die sich offenbar noch klar artikulieren kann – aber von ständig wiederkehrenden Krämpfen geschüttelt wird. Sie findet einen männlichen Gegenpart, der hyperaktiv die Bühne einnimmt. Seine wilden Sprünge ins Nichts – hart auf dem Boden aufschlagend – sein Anrennen gegen die Mauer, immer und immer wieder, hinterlässt beim Publikum schon beinahe Phantomschmerzen. Er ist dem Zärtlichkeitsansturm seiner Partnerin nicht wirklich gewachsen und seine Annäherungen erinnern mehr an Handgreiflichkeiten denn an Zärtlichkeitsbekundungen. Die Momente der Innigkeit sind – wenn überhaupt – auf Sekunden zusammengeschmolzen.
Augustijnen zeigt mit seiner 8-köpfigen Truppe die gesamte Bandbreite von deformierten Seelen- und Beziehungszuständen, die sich in den einzelnen tänzerischen Persönlichkeiten manifestieren. Athanasia Kanellopoulou, Benjamin Boar, Chantal Loial, Gael Santisteva, Grégory Edeloin, Jakub Truszkowski, Ligia Manuela Lewis und Florence Augendre schlüpfen in Rollen, die ihnen alles abverlangen. Ihr Tanz bedeutet nicht nur körperliche Anstrengung, sondern völlige Identifikation mit der jeweiligen Figur – bis in die stärkste Raserei und den höchsten Wahnsinn. Dazwischen lassen lyrische Momente ihren und den Atem des Publikums zur Ruhe kommen.
Wie bei dem durch einen Stab in Bauchhöhe miteinander verbundenen Paar. Es tanzt so lange unbeschadet und in zärtlicher Erwartung über die Bühne, bis die Frau mit dem Rücken zur Wand zum Stehen kommt. Den Annäherungsversuchen des Mannes entkommt sie nur mehr, indem sie aus ihrem Pullover schlüpft, der lose unter dem Stab hängend an der Wand verbleibt; ein beredtes Bild des Verlassenwerden. Nichts desto trotz – der Liebende und Besitz ergreifen Wollende gibt nicht auf. Schon mutiert der Stab zu seinem dritten Bein mit dem er immer wieder nach seinem Opfer fischt. Eine eindringliche Szene, unglaublich gut choreographiert und tänzerisch umgesetzt; aber auch sie muss wieder ohne Märchenschluss auskommen.
Wie sehr sich der tänzerische Ausdruck heute in alle Formen der körperlichen Bewegung hin ausdehnen kann wird in jenem Auftritt deutlich, der sich über den Köpfen der Musiker abspielt. Der Boden der darüber zu erkennenden Terrasse entpuppt sich von einer Sekunde zur anderen – als Trampolin. Die halsbrecherischen Sprünge, das Landen auf dem Rücken, das Abstoßen – all dies erfolgt exakt im Rhythmus der Musik, die darunter live produziert wird. Eine Herausforderung nicht nur für die Tänzer, sondern auch für die Musikerinnen und Musiker. Wann spielt man schließlich schon unter einem nachgebendem Trampolin? Die Musik von Georg Friedrich Händel wird vom Countertenor Jonathan de Geuster und der Sopranistin Maryllis Dieltiens auch in Szene gesetzt. Sie mischen sich unter die Tänzer und werden in verschiedenen Auftritten mit eingebunden. Die fünf Instrumentalisten spielen so nahe wie möglich am musikalischen Vorbild, haben jedoch zwei Stimmen mit historisch fremden Instrumenten besetzt. Ein Marimba und ein Akkordeon. Ergänzt wird der klangliche Ausdruck noch durch Schlagzeugklänge und elektronische Einspielungen, die eine bedrohliche Stimmung erzeugen, die als Grundlage zu einer Schlacht – jeder gegen jeden – dient.
Nicht genug der Eindrücke, die im Minutentakt wechseln, fügt auch noch die aus Guadeloupe stammende Chantal Loial mit ihrem Partner eine Szene hinzu, in der sie ihren Verehrer gleichzeitig anzieht und zurückweist. Mit ihren lauten und ständig wechselnden Aufforderungen vien! „komm her“ und pas! „nein, bleib stehen“ treibt sie ihn an den Rand des Wahnsinns und er körperlichen Erschöpfung. Ihre am afrikanischen Tanz geschulte Ausdrucksmöglichkeit ergänzt die Truppe ausnehmend gut und extrem bereichernd. Dieses hier tänzerisch umgesetzte Beziehungsspiel äußert sich als psychologisches Phänomen des double-bind, welches tatsächlich in letzter Konsequenz in der Shizophrenie endet. Die bühnenreife Verwandlung könnte als anschauliches Lehrbeispiel für Psychologiestudenten dienen.
Der Ausklang des Abends stimmt ruhig und versöhnlich. Augustijnen lässt alle Ensemblemitglieder in parallel angeordneten Reihen sich auf dem Boden in ruhigem Rhythmus hin- und her wälzen. Richtungswechsel und knieende Figuren beleben die Szenerie noch ein letztes Mal, aber die Menschen scheinen sich und ihresgleichen wieder gefunden zu haben. Etwas Neues ist im Entstehen und lässt das Alte, Belastende zurück. Etwas, das vereint, das Gemeinschaft zeigt und somit tröstlich wirkt. Ashes, ein komplexes, nicht nur sehenswertes, sondern auch extrem nachdenkenswertes Stück – zeitgenössisches Tanztheater auf höchstem Niveau.
Le Maillon in Straßburg zeigt sich abermals als Veranstaltungsort, der hohe zeitgenössische, internationale Bühnenkunst präsentiert.
Dieser Artikel ist auch verfügbar auf: Französisch