Die Vorstellung beginnt mit einem völlig schrägen Auftritt einer Frau. Schräg, im wahrsten Sinne des Wortes. Einer Frau, die wohl nicht alle Tassen im Schrank hat, so meint man. Aleksandra Corovic betritt die Bühne mit ihrem Hinterteil voran, um dann geziert über dieselbe zu stolzieren und schließlich auf zwei Stühlen gleichzeitig Platz zu nehmen. Dass etwas mit ihr nicht in Ordnung ist, sieht man sofort. Auf ihrer schwarzen Handtasche prangt der Schriftzug: NO. Eine Verweigerin. Eine Aufmüpfige. Eine Systemstörerin. Eine Antigone.
Ihre Gegenspielerin Iphigenie – kurz Jeanny genannt, ist das genaue Gegenteil von ihr. Lebensfroh, dauerquasselnd, angepasst. Ausgestattet mit Witz aber auch Empathie, etwas, das Antigone zu fehlen scheint.
Der Ort der Handlung: Das Wartezimmer eines Therapeuten
Die beiden jungen Frauen befinden sich im Wartezimmer eines Psychiaters. Jeanny, weil sie dort auf ihre Mutter wartet und Antigone, weil sie selbst Patientin ist. Ihr Problem: „Ich vögel meinen Bruder und mein Stiefvater findet das krank.“ Um sich die Wartezeit zu vertreiben, beginnen die beiden mit einem Spiel.
Familienaufstellung auf antik könnte das zusammengefasst werden. Mit allen wichtigen Protagonisten, die dazugehören. Mit Antigone selbst, ihrer Schwester Ismene, ihrem Geliebten Hämon, dessen Vater Kreon, der das Recht des Staates vertritt und nicht zu vergessen, dem Volk. Jener Stimme, die sich auch auf den „gesunden Menschenverstand“ beruft. Nicht im Spiel, sondern außerhalb – mitten im Publikum – befindet sich ein junger Mann, der dafür sorgt, dass das Geschehen mit seinen Namenseinwürfen vorangetrieben wird. Aber er (Jan Walter) sorgt auch für Recht und Ordnung, denn wann immer sich Antigone eine Zigarette anzünden will, ist er mahnend und ordnend zur Stelle: „Das ist hier verboten!“ Die schier genial spielende Julia Edtmaier schlüpft nicht nur in die Rolle der Iphigenie, sondern auch in alle anderen, die bei der Aufstellung gebraucht werden.
Der Text: Spritzig, witzig, gescheit und tiefgründig
Der Text – eine Mischung aus zeitgeistigem Jugendsprech und originalen Textfragmenten – ist nicht nur mit aktuellen Verweisen gespickt, sondern schlichtweg fulminant. Aristoteles Chaitidis ist dafür verantwortlich. Es gelingt ihm damit, die antike Vorlage ins Hier und Jetzt zu transferieren, ohne dass der historische Hauch ganz verloren geht, aber zugleich auch so, dass niemand Angst haben muss, auf Versmaße oder Unverständlichkeiten zu treffen, die einschläfern.
Eine Regie von ganz großer Klasse
Dass genau das Gegenteil passiert, dafür ist Steve Schmidt verantwortlich. Seine Regie ist schlichtweg vom Feinsten, was in der letzten Zeit in der freien Szene in Wien gezeigt wurde. Witzig, tiefgründig, hart und brutal führt er seine Figuren durch die Wirren ihres Innen- und Außenlebens. Und verpasst dabei dem Publikum an einer Stelle auch eine ordentliche Beschimpfung, wie es sich am zeitgenössischen Theater eben gehört. Aber so subtil angesetzt, dass sich niemand wirklich angesprochen fühlen muss. Denn bei der Suada, die Antigone gegen Kreon anhebt, kann man ihre Gesellschaftskritik ruhig auch ihrem Widersacher anlasten. Die Vieldeutigkeit, die der Regisseur mit verschiedenen Aktionen dem Text verpasst, die Aktualität, mit der er diesen umsetzt, ohne das Thema des Theaterspiels zu ignorieren, hat einfach ganz große Klasse und verblüfft enorm.
Immer wieder lässt Schmidt das Geschehen aus der Erzählstruktur kippen und stellt Bezüge zum Theater selbst her. Dafür zieht Edtmaier auch schon einmal den Mantel aus, mit dem sie gerade Kreon markierte und stöhnt: „Ich kann das hier einfach nicht mehr!“, um dann, vom „Wächter“ aus dem Publikum wieder auf Schiene gebracht zu werden.
Ein unausweichlicher Kampf
Als sich das Geschehen um die unbeugsame Frau, deren Lieben samt und sonders gegen alle Konventionen verstoßen und von der Gesellschaft nicht goutiert werden, verdichtet, kommt rohe Gewalt ins Spiel. Anstelle Kreon die Hand zur Versöhnung zu reichen, die er Antigone nach einer staccatestken, verbalen Auseinandersetzung anbietet, zeigt sie ihm provozierend ihren ausgestreckten Mittelfinger. „Du Vernunftwesen voller Überzeugungen, wie es mich ekelt, vor deinem Heil“, schleudert sie ihm noch entgegen. Dass das nicht gut gehen kann, ist der Rebellin egal. Unterordnen ist nicht ihr Ding. Aleksandra Corovic stattet ihre Antigone mit einer unglaublichen Präsenz und Eindringlichkeit aus. Eine Frau, der man nicht widerspricht, sondern mit der „Mann“ letztlich nur kämpfen kann.
Die Drecksarbeit, die zu verrichten ist, die Strafe, die ihr die Gesellschaft für ihre Andersartigkeit und ihren Freiheitsdrang qua Gesetzt auflädt, überlässt Kreon jedoch dem Zigaretten-Wau-Wau, dem Wächter über Gesetz und Ordnung. Nachdem Antigone schließlich wider jede seiner Anordnungen provozierend eine Zigarette zu rauchen beginnt, rastet er aus. Was in einer langen Gewaltattacke gegen Antigone gezeigt wird, ist aber nicht der unkontrollierte Angriff eines einzelnen gegen die Staatsfeindin, sondern die von der Macht legitimierte Gewalt gegen die Andersdenkenden. Zart Besaitete schauen weg und zählen die Minuten bis der Kampf endlich vorüber ist.
Antonio Chorbadzhiyski begleitet schließlich die letzte Szene, in der Antigones Wille gebrochen werden soll, mit kratzenden Strichen an seinem Cello. Aufpeitschender, tiefergehend hat man kaum eine Gewaltszene am Theater erlebt, in welcher die Gewalt – im Gegensatz zur Szene davor – nicht direkt gezeigt wird. Das hat ganz große Klasse.
Der Schluss darf frei interpretiert werden – aber macht auch Hoffnung
Am Schluss ist es jedoch die Anti-Frau, die hoch erhobenen Hauptes das Publikum von der Bühne aus ansieht. Ihr Peiniger, nach dem Gewaltakt selbst eine Zigarette rauchend und Kreon, der sie verurteilte, sind längst verschwunden. Man darf die letzte Szene deuten wie man möchte – Antigone als wieder auferstandene Illusion oder Antigone, die nichts brechen kann. Letzteres macht zumindest Mut.
Das Schmidt auch eine große Portion Humor in dieser Antigone-Überschreibung unterbringt, zeigt er nicht zuletzt mit dem kurzen Auftritt von Klytämnestra, Jeannys Mutter. Alfred Pschill darf diese mit blonder Perücke und Chanelkleid mit Goldketten mimen, stumm, aber unter lautem Publikumsgelächter.
Ein Abend der Hochbegabten, der nicht nur wegen des Ausgangs Hoffnung macht, sondern auch wegen der Spitzenleistung, die hier auf, hinter und vor der Bühne geleistet wurde. Vielleicht darf man auf eine Wiederaufnahme dieses Stückes, einer Koproduktion zwischen T.A.L. – Terraformin Arts Laboratorium und dem Bronski und Grünberg Theater, hoffen. Gratulation von unserer Seite zu dieser herausragenden Inszenierung und Ensemble-Gesamtleistung.