Der erzählte Tanz

Der erzählte Tanz

Michaela Preiner

Foto: ( )

20.

Juli 2016

Anne Teresa De Keersmaeker überraschte das Wiener Publikum mit der "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke".

Das ImpulsTanz Festival 2016 liefert in diesem Jahr gleich zu Beginn einen großen Paukenschlag nach dem anderen. Nach Maguy Marin und Wim Vandekeybus ist Anne Teresa De Keersmaeker der dritte international bekannte Tanzstar, der für volle Häuser sorgt.

Die belgische Tänzerin und Choreografin präsentiert mit ihrer Kompanie Rosas in diesem Sommer in Wien gleich 2 Produktionen. Mit „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ gestaltete sie im Odeon ihren Auftakt. Einen sehr ungewöhnlichen, denn entgegen der Gepflogenheit, den Tanz für sich selbst sprechen zu lassen, drehte Keersmaeker den Spieß um. Sie bot zugleich der Flötistin Chryssi Dimitriou sowie dem jungen Tänzer Michaël Pomero eine Plattform, um diesen Abend gemeinsam zu gestalten und präsentierte sich selbst dabei erstmals auch in der ungewöhnlichen Rolle einer Erzählerin.

Der Text, den Rainer Maria Rilke 1899 in unregelmäßiger und unterbrochener Reimform verfasste, handelt von einem jungen Reiter, der mit seinen Kameraden auf dem Weg gegen die türkische Bedrohung unterwegs ist. Dabei kommt er an einem Abend zu einem Schloss, in welchem er die Nacht mit der Gräfin verbringt. Mit Mühe rettet er sich am nächsten Morgen aus der brennenden Feste, um schließlich mit der Fahne seines Landes inmitten der Feinde zu landen, die im Dutzend auf ihn losgehen und ihn mit Säbeln töten.

Bemerkenswert bei dieser Produktion ist nicht nur, dass Keersmaeker sie in verschiedene, in sich abgeschlossene Teile, gliedert. Bemerkenswert ist auch, dass sich Musik und Tanz, aber auch der Text selbst, lange Zeit disparat zueinander verhalten. Zu Beginn kommt Pomero alleine auf die Bühne, fängt zu tanzen an, noch während das Licht im Zuschauerraum an ist. Seine Choreografie ist geschmeidig, erinnert an vielen Stellen an das Dahingleiten mit Schlittschuhen über ein Eis. Immer wieder sind es Rumpf- und Kopfbeugungen, die sich in der Richtung abwechseln, von links nach rechts und umgekehrt. Schrittfolgen, bei denen er über den Boden rutscht lösen sich mit kurzen Läufen und vielen Drehungen ab. Es ist ein Tanzsolo ohne erkennbare Aussage,  hoch rhythmisiert und extrem ästhetisch. Die geometrischen Markierungen am Boden sind kaum sichtbar und doch von Bedeutung für die Choreografie. Nachdem der junge Mann abgeht, wird der Text von Rilke zum Lesen an die Wand projiziert. Im Saal ist es dabei ganz still. Das Publikum macht nun etwas, was man für gewöhnlich in Gemeinschaft nicht tut – es liest. Leise, jeder und jede für sich nach dem individuellen Tempo, auf Deutsch oder Englisch, beide Sprachen werden angeboten.

Als sich das Geschehen im Text zu einer dramatischen Wendung verdichtet, kommt Dimitriou auf die Bühne. Stellt sich ganz vor zum Publikum, knapp an den Bühnenrand und beginnt ein Stück des zeitgenössischen, italienischen Komponisten Salvatore Sciarrino zu intonieren. Es sind keine harmonischen Töne, die hier mit der Flöte produziert werden. Vielmehr ist es der Atem der jungen Frau selbst, der im Mittelpunkt steht. Das Geräusch der Klappen, der Einsatz von Obertönen, die Verfremdung des Instrumentes hin zu einem percussiven Sound – all das lässt im wahrsten Sinne des Wortes aufhorchen und zieht die Menschen im Saal in ihren Bann. Man vermeint, das Getrappel von Pferdehufen zu hören, kann sich vorstellen, wie der Wind durch die Haare des jungen Soldaten streicht und er mit der Peitsche das Tier antreibt. Man fühlt beinahe das Schnauben des angestrengten Pferdes und ahnt, dass dieser Zustand in eine Art Raserei münden wird. Gemeinsam mit dem Text, den man zuvor las, evoziert das Flötensolo „Immagine fenicia“, das immer furioser und furioser wird und in einem Galopp-Rhythmus landet, ein Getriebensein, ein Rasen, einen Zustand, der mit höchster Anspannung vielleicht am besten beschrieben werden kann.

Als die letzten Töne verklungen sind, der letzte Atemstoß gesetzt wurde, geht die Musikerin unprätentiös ab und bleibt ein wenig abseits der Bühne stehen, um später noch einmal kurz ihr Instrument zu bespielen. Anne Teresa De Keersmaeker und Michaël Pomero werden zu „All` aure in una lontananza“ tanzen, doch sind es wiederum keine illustrierenden Töne oder Bewegungen, die hörbar werden und die gezeigt werden. Vielmehr nimmt man Musik, Text und Tanz als unterschiedliche, voneinander unabhängige Ebenen wahr, die hier aufeinandertreffen.

Der Tanz von Keersmaeker und Pomero ist nicht sinnlich, nimmt nicht das Geschehen in der Turmstube voraus, in dem sich die Gräfin und der junge Cornet liebend vereinigen. Es sind Bewegungen, die sich auf die Körperlichkeit der Tanzenden  beziehen, die sich wie zufällig immer wieder treffen, um kurze synchrone Momente wiederzugeben. Die Kostüme, graue Stoffhosen und hellgraue Pullover bzw. Hemden sind neutral angelegt. Sie sind nicht männlich oder weiblich konnotiert und auch der Tanz selbst changiert beständig zwischen den Geschlechtern. De Keersmaeker, die Frau, erscheint oft als die stärkere, standfestere Person, während Pomero immer wieder auf den Boden sinkt. Im Gegensatz zu ihr agiert er jedoch raumgreifender. Keiner von ihnen gewinnt je die Oberhand, zeigt sich als das starke Geschlecht. Ein Umstand, der sich auch in der Ballade von Rilke wiederfindet.

Nach dieser Szene kippt die Tanzaufführung zu einer rein theatralen Performance. De Keersmaeker bleibt alleine auf der Bühne und beginnt den Text zu rezitieren. Wie in dem äußerst informativen Artikel von Wannes Guyselinck  im Programmheft nachzulesen ist, hat die Tänzerin dabei direkte Anleihen bei Tonaufnahmen von Oskar Werner genommen. Diese österreichische Schauspielikone  war zeit ihres Lebens von diesem Rilke-Text fasziniert. Gleich zwei Tonaufnahmen sind von Oskar Werner erhalten. Eine, die er als junger Mann und eine, die er im Alter aufgenommen hat.

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Es ist jedoch die Eindringlichkeit der Sprache von Keersmaeker, ihre Konzentration, das Wechseln der Stimmlagen, je nachdem ob sie von der Gräfin spricht oder vom Oberst, ob sie über eine Madonna am Wegesrand erzählt, oder in die Rolle des jungen Cornets schlüpft, die fasziniert. Diese vokale Bühnenpräsenz, gepaart mit reduzierten Bewegungen, die teilweise einfrieren, sie an einem bestimmten Punkt festnageln, während sie weiterspricht, ist außerordentlich. Das Oszillieren ihres Idioms, das zwischen Hochdeutsch, Flämisch und Österreichisch pendelt, ergibt ein einzigartiges Klangmuster. Gepaart mit der rhythmischen Reimform beginnt man in diesem letzten Teil zu verstehen, wie sich Klang, Atem, Satzbau und Inhalt, wie sich Musik und Tanz hier zu einem einzigartigen Kunstwerk verdichten, das wie aus Raum und Zeit gefallen scheint.

Durch eine dramatische Lichtregie, welche die Bühne ab der Beschreibung der Schlossbrandschatzung in ein blutiges Rot taucht, wird das Ende des Stückes stark emotional visualisiert. Der Höhepunkt, der Tod des jungen Cornets, wird von Keersmaeker reduziert und intensiv zugleich wiedergegeben. Das Ritardando, das sie in den letzten Satz, zwischen die letzten Worte einschiebt, lässt jenen Moment vor dem eigenen inneren Auge wie in Zeitlupe nachvollziehen, in dem der junge Rilke wahrnimmt, dass er seine letzten Sekunden auf dieser Welt erlebt. Gleißendes, weißes Licht holt am Ende des Stückes das Publikum zurück ins Jetzt.

Keersmaeker greift hier, trotz aller Gattungsüberschneidungen oder besser –überlagerungen auf eine uralte Tradition zurück. Eine Tradition, auf die man sich derzeit in vielen verschiedenen Kunstproduktionen besinnt. Es ist die Überlieferung von Geschichten, Mythen, Märchen in ihrer ursprünglichsten Form, mittels der mündlichen Erzählung. Dabei macht es nichts aus, dass die Ballade über den tragischen Tod des jungen Soldaten in Reimform übermittelt wird. Vieles, was über die Jahrhunderte an Literatur von einer Generation an die nächste weitergegeben wurde, geschah auf diese Art und Weise. Es ist gerade der Rhythmus eines Textes, der sich, immer und immer wieder rezitiert,  auch im Körper festsetzt. Nicht nur der Geist alleine, der dem Geschriebenen innewohnt, sondern vor allem auch der Körper selbst ist es, der es möglich macht, über Raum und Zeit hinweg eine Geschichte am Leben zu erhalten. Das ist genau das, was in der Performance „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“ so überaus deutlich wird. Keersmaeker zeigt mit ihrer Arbeit auch auf, wie es möglich ist, dass sich ein Text in jede Körperfaser einschreibt und wie er sich durch das Ohr in das Hirn und Herz jener einschleichen kann, die zuhören. Das ist wohl die größte Erkenntnis, die man aus  dieser außergewöhnlichen Produktion mit nach Hause nimmt. Dass Anne Teresa De Keersmaeker wirklich zu den ganz Großen der zeitgenössischen Tanzszene gehört, bemerkt man spätestens dann, wenn sich in der Rückschau auf diesen Abend alle Szenen, Musik, Tanz, das gesprochene und das geschriebene Wort tatsächlich zu einem einzigen großen, harmonischen Ganzen vereinen.

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