Der Boden unter den Füßen gibt leicht nach. Er ist weich und verströmt einen feinen Grasgeruch. Ein duftender Parkplatz ist eine neue Erfahrung. Der schmale Weg ins ausgeschilderte Foyer des kurhäuslichen Zauberbergimitats ist leicht abschüssig, gibt sich waldhaft und schickt Erwartungen voraus. Das verwunschene Haus mit den vielen Balkonen lebt, zumindest ein wenig. Zumindest an diesem Abend. Die Fassade ist verwaschen, die Einrichtung zusammengestoppelt, sie stammt aus besseren Zeiten. Das Berge-Gegenüber trägt vereinzelte Häuserpickel. Das Geräusch der vorbeifahrenden Züge erinnert nicht mehr an zischende Dampfmaschinen. Vielmehr rauschen sie, abhängig von der elektrischen Leine, an der sie allesamt hängen, vorbei und künden von Geschäftigkeit und Reisewillen.
Mit weißen Tischtüchern verzurrte Stehtische im Freien und im Foyer vermitteln Gastfreundschaft für wenige Minuten. Der mit Messing ummantelte Eingang in den leeren Saal im Parterre trägt sein Entstehungsdatum noch immer mit Stolz zur Schau. Der rote Sisalteppich auf der Treppe ins Theaterglück lässt seinen grauen Auslegebruder im Eingangsbereich alt aussehen. Vorbei geht es an verblassten Tischchen, Anrichten, Sesseln mit dem Nummernziel 3/12 vor Augen in den ehemaligen Speisesaal. Geduldig wartet er und hat dabei ein wenig von seiner einstigen Noblesse behalten. Der kleine, stirnseitige Balkon, wehmütig verwaist, trägt ganz kokett immerhin noch ein Glitzermosaik. Die reliefierte, noble Dame genau unter ihm, bietet, in der Zeit eingefroren, ihrer Äskulapnatter eine Erfrischung an einem kunstvoll verzierten Wasserbecken – oder erhofft sie sich von ihr sogar heilendes Gift?
Ein kleiner Teppich mit einem darauf abgelegten Saxophon, daneben ein schwarzes, chromatisches Akkordeon und ein buntes, diatonisches. Sie bewachen zwei einfache Stühle. Einer davon verbirgt fast schamhaft eine geöffnete Weinflasche unter seinem Bauch.
Behutsam der erste Auftritt. Hand in Arm, sie voran, er sicher geleitet hinter ihr. Ein eingespieltes Team und ein Ritual, das jeden neuen Auftritt einleitet. Die Stufen hoch auf die Bühne, dann quer darüber, vor zu den Sesseln, die Scheinwerfer im Gesicht, die Größe des Raumes wird für den blinden Mann durch den Schall des Publikumsapplauses fühlbar. Die warme Akklamation ist ein Willkommen und ein Vorab-Dank für die kommende Nicht-Zeit, die ausgefüllt sein wird mit Musik und Lyrik.
Die Augen weit offen, funkelnd, zuweilen stechend, das R, das sie rollt wie keine Zweite, bringt sich in Stellung. Der türkis-grüne, bodenlange, geraffte Rock und das weiße Spitzenoberteil werden vom lauen Sommerabend willkommen geheißen. Die Verbeugung endet am Boden vor dem glänzend polierten Saxophon. Schwer liegt die Eleganz des Akkordeons auf seinen Schenkeln, ganz im Bewusstsein der gepolsterten Tragegurte. Eine kleine, musikalische Einstimmung für das eigene Ich und das der anderen, gefolgt vom ersten Sprung ins Wörtermeer. In das Büro, in dem gearbeitet wird und in dem sich die Erzählerin völlig fremd fühlt. Ausgeschlossen von der absurden Betriebsamkeit der anderen und hinausgeworfen von der flüsternden Stimme des Chefs. Hinausgetrieben aus der Stadt, hinein in den Wald, der rund um das in die Jahre gekommene Haus in größter Selbstverständlichkeit wuchert. Da winkt er zum ersten Mal an diesem Abend herein. Herein durch die zum Teil geöffneten Fenster, in die etwas später ein leiser, kühler Lufthauch der Sommerhitze ihre schwere Decke wegziehen wird.
Ihre Geste hinaus ins Grün ist ein Vorbote zu jener Tirade, die diese Farbe als entsetzliche entlarvt. Als eine, die ungewollte Emotionen auslöst. Als eine, der man nicht entkommt, nicht entkommen kann. Als eine, die, winters vertrieben, im Geheimen schon wieder auf ihren neuen Ausbruch wartet. Das Akkordeon folgt der Stimmenmelodie und zittert bei jeder neuen Grüüüüüün-Beschwörung, die sich mehr gehaucht als stimmhaft durch den Raum ausbreitet.
Ein Haupt voll Blut und Wunden löst das grüne Elend ab und durchströmt mit Wohlklang das Akkordeon. Der Geier, der es sich dabei an den Füßen eines Mannes wohl ergehen lässt, der ihn drangsaliert, ohne verscheucht werden zu können – er wird am Ende im Blut seines Opfers ertrinken. Sein Erzähler hingegen nimmt es gelassen. Schmunzelt bei jedem neuen, kafkaesken Bild und spielt wie nebenbei seine Talente aus.
Wörter die perlen, Sätze, die singen, eine Stimme, die musiziert, Bilder, die klingen – ein einziges, lyrisches Interpretationsfeuerwerk, in das sich die Musik wie ganz natürlich einfügt – dieses Szenario beschert den staunenden Ohren und Augen einen verfaulenden Faulpelz und einen windhundartigen Esel, der plötzlich verschwindet. In jenem Moment, als sich die Stimmen des tiefen, samtenen Saxophons und der elegisch sich ausbreitenden Harmonika in einem Volkslied verschränken. Geboren aus dem Grün, oftmals erklungen in Tälern und auf Hängen, verwundert es sich offenkundig kein bisschen, dass es sich hier, an einem ehemaligen Ort des Gesundens, wiederfindet.
Wenige Augenblicke später gebiert sich die Gebirgswelt, als ob sie den süßen Harmonie-Kitsch mit Brachialgewalt von ihren Hängen fegen wollte. Die Stimme springt über Täler, die Musik flattert dazu, als ob sie die Fahrt einer Dampflok imitieren wollte. Über bewaldete Landschaften, steile Hänge und dunkle Seen walsert der Text und verschmilzt mit der Musik zu einem untrennbaren Ganzen. Draußen grünt es ein wenig dunkler und bettet einen Satz ins Gedächtnis, der gelesen völlig belanglos erscheint. „Am See steht ein Haus, von einem Schneider bewohnt“. Ein Satz, interpretiert von einem Leben, in dem sich tiefe Menschlichkeit und höchste Kunst vereint. Nie zuvor so gehört, erhält er eine Realität, die so tief in die Seele greift, dass ihr dabei schwindlig wird.
Da erscheint die buchhalterische Last des Poseidons, der seine Ägäis nur verließ, um auf den Olymp zu steigen, wie ein Spiel mit Murmeln. Das saxophonische Wassergurgeln, das Glucksen und Aufsteigen der Luftblasen, der zarte Strömungshauch tragen ein Übriges dazu bei, dass man dem alten Gott noch ungezählte Buchhaltungsfolianten wünscht, die ihm das Sein in seinem Element rechtfertigen.
Das stille Saxophon – ein Vorbote der letzten, leise gehauchten Atemzüge des schwarzen Akkordeons. Was bleibt ihm auch anderes übrig, nachdem die Welt in Scherben zerfallen ist und sich ins Nichts aufgelöst hat?
Behutsam der Abgang. Hand in Arm, sie voran, er sicher geleitet hinter ihr. Ein eingespieltes Team und ein Ritual, das jedes neue Ende einleitet. Die Rücken nun den Scheinwerfern zugewandt, vorbei an den Sesseln, quer über die Bühne, die Stufen hinab. Damit schließt sich der Kreis der Zaubernacht. Die sich zur Ruhe gelegt habende Zeit erwacht wieder, vernimmt die Schallwellen der Ovationen und streckt sich gähnend noch einmal zu einem Grün, das lieblicher nicht sein könnte.
Der schmale Weg zum Parkplatz geht sanft bergauf, gibt sich waldhaft und hängt Gedanken nach. Der Boden unter den Füßen gibt leicht nach. Er ist weich und verströmt einen feinen Grasgeruch. Ein duftender Parkplatz ist keine neue Erfahrung mehr. Das hellgrüne Kleid und das grüne Hemd, ein winkender Nachgesang, verschwinden gebeugt in einem kleinen Auto. Vor vielen Jahren hätte sich Verwunderung über diesen Zufall breit gemacht. An diesem Abend ist es nur die Erkenntnis, dass es anders nicht kommen hätte können.
Das Programm von Anne Bennent und Otto Lechner trug den Titel „Am Hals der Natur“. Es wurde im Rahmen des KulturSommerSemmering 2017 am 3. August im Kurhaus präsentiert.