Altes Gelände, neue Kunst

In weitläufigen Fabrikhallen aus dunklem Backstein, nur einige Meter abseits der vielbefahrenen Laxenburger Straße, ging von Mitte Juni bis Anfang Juli 2016 die Post ab. Nicht, weil das ehemalige Gösser-Gelände derzeit der Österreichischen Post gehört, sondern weil die Gruppe „God`s Entertainment“ diese Location in dieser Zeit intensiv bespielte. Das idyllische Grün rund um den Haupteingang täuschte. In den großen Hallen wartete so manches subkutane, kulturelle Schockerlebnis auf die Gäste.

Real deal – wrong delivery

„Real deal – wrong delivery“ – Behördlich genehmigtes Festival für falsche Zustellungen – nannte sich das Kulturereignis, an dem insgesamt mehr als 50 internationale Künstlerinnen und Künstler teilnahmen. Die Spannbreite der Interpretation des Generalthemas war demgemäß riesig. Falsche Zustellungen gibt es im Leben von einzelnen genauso wie im Bereich von größeren, sozialen Strukturen. Und manches Mal wähnt man sich selbst wie in einem falschen Film. „Wir verladen die Fracht und beliefern. Gerne auch falsch. Aber das richtig“, war im Begleitprogrammheft zu lesen. Und geliefert wurde auch an anderen Plätzen in Wien, wie vor dem Musikverein. In Zusammenarbeit mit „FreundInnen der Friedhofstribüne“ wurde dort ein 20-minütiges, dramaturgisch strukturiertes Chorwerk aufgeführt, sehr zum Spaß aber auch zur Irritation uneingeweihter Passanten.

Entartet 2018 – Tour

Real deal (c) European Cultural News

Real deal (c) European Cultural News

Um Irritation ging es auch in der „Entartet 2018 – Tour“.  Zu dieser luden die Veranstalter, God´s Entertainment, höchstpersönlich. Um mitzumachen, musste man sich zuerst brav und ordentlich mit einer Nummer bekleben lassen, um anschließend vor der Nachbildung des Prager Kafka-Denkmales in der Eingangshalle Aufstellung zu nehmen. Von dort aus ging es gemeinsam in der Gruppe von Raum zu Raum, von einer Installation zur nächsten. Diese hatten alle ein Generalthema: Ein Österreich, das sich nach den nächsten Nationalratswahlen 2018 von einer rechten Politik getrieben, in eine nationale Enklave verwandelt. Obwohl dies nie direkt ausgesprochen wurde, war von Beginn an diese düstere Zukunftsprognose zu spüren.

Ein raumfüllendes Alpenpanorama, vor welchen Hakenkreuz-Ventilatoren für Wind sorgten, ein überdimensionales Vogelnest, in das sich eine ganze Familie setzen hätte können, eine erdige Österreich-Installation mit einem 7 Meter hoch aufgezogenen Stacheldraht rund um die Grenzen, der Blick auf den Heldenplatz mit nachgebildeten, kleinen Figuren, deren Nazi-Bekundungen man durch Bernhardts Heldenplatz Beschreibungen vor seinem geistigen Auge und Ohr hören konnte und nicht zuletzt die Imitation von Paintball Spielen, wie sie die rechte Szene so gerne betreibt, waren längst nicht alle Bausteine dieser Tour. Schade, dass die eindringlichen Texte, die man von „Korrespondenten“ aus östlichen europäischen Ländern, aber auch aus der Türkei in Telefonzellen abrufen konnte, nur von wenigen BesucherInnen tatsächlich auch gehört wurden.  Diese jüngsten, realen Erfahrungen mit einer radikalisierten politischen, nationalen Rechten, welche von den Kulturschaffende eindringlich beschrieben wurden, ließen weitere Assoziationen zu. Und das Unbehagen, dass 2018, nach der kommenden Nationalratswahl, das eine oder andere hier präsentierte Szenario auch in Österreich zum Tragen kommen könnte.

Gesellschaftskritik in buntem Gewand

Neben einer ganzen Reihe von Workshops und Konzerten konnte man im „Pop up store“ von Uschi Geller Klamotten von Roberta Cravalli oder Cunt + Hamamness Vuitton erstehen, sich im „Schmissautomaten“ Tipps geben lassen, um möglichst rasch und fehlerfrei vom linken ins rechte Lager wechseln zu können, oder sich an der „Mash-up Juke-Box“ von Scott McCloud und David Schweighart an analogen Musikdarbietungen erfreuen. Dabei erinnerte die Ästhetik der Installationen insgesamt an die Aufbruchsstimmung der bildenden Kunst der 60er bis 80er Jahre, als das Sprengen von Grenzen des Kunstbetriebes fröhliche Urstände feierte.

Das Performance-Higlight Crotch

Ein Performance-Highlight lieferte der aus Kanada stammende und in San Francisco ansässige Künstler Keith Hennessy ab. In Wien durch viele ImpulsTanz-Einladungen bekannt, zeigte er bei „Real deal“ seine bereits 2008 entstandene Arbeit „Crotch“, die keinerlei Verfallsdatum aufweist. Darin verwendete er viele Beuys-Bezüge, die er nicht nur durch Objekte veranschaulichte, sondern auch durch Aktionen erzeugte. Sie bildeten einen Rahmen, in dem das Publikum Einblicke in Hennessys kunsthistorisch-philosophisches Gedankengebäude erhielt, Querverweise in die Tanzszene des 20. Jahrhunderts eingeschlossen. Er legitimierte dabei sein Tun durch eine fulminante, intellektuell aufgebaute Vorlesung, die er, beginnend von Plato bis hin zu den Gender- und QueerphilosophInnen unserer Tage, in atemberaubendem Tempo abhandelte. Im Anschluss daran erfolgte eine Referenz zu Edvard Munchs Schrei durch eine Maske, mit der Hennessy einen Ausdruckstanz folgen ließ, der zwischen Tragik-Komik und innigen Momenten schwankte.  Als er sich, das Publikum ganz nah herangerückt, zum Schluss mit einem roten „Bluts“-Faden mit drei Menschen direkt „vernähte“ und sich dabei nicht scheute, seine eigene Haut zu perforieren, war die allgemeine Anspannung in diesem düsteren, abgefuckten, ehemaligen Lagerraum angreifbar. Nackt auf einem Sessel sitzend, sein Geschlecht durch eine Fettbarrikade vor direkten Blicken geschützt, eröffnete er mit dieser simplen, aber umso drastischeren Aktion einen Tsunami an individuellen Assoziationen. Wie er den Bogen zwischen einem anfänglich sehr persönlichen Statement, bei dem er ein Gedicht verlas, das er vor Jahren anlässlich eines Beziehungsendes verfasste, über eine anschauliche, kulturphilosophische Vorlesung hin zu einem hoch emotional gestalteten Finish spannte, hatte einfach ganz große Klasse. Hennessy beherrscht, wie wenige sonst, die Kunst der interdisziplinären und zugleich aktivistischen Performance, die darauf abzielt, sowohl reflexive als auch emotionale Ebenen anzusprechen. Mit dieser Mischung gelingt es ihm, vielschichtige, neurale Prozesse in Gang zu setzen, die Menschen mit unterschiedlichstem Wissensbackground fesseln.

Im Schnitt besuchten während der zwei Wochen Festivaldauer pro Tag 400 Menschen das Gelände. Das zeigt, wie groß das Interesse an einer Kulturveranstaltung, die nicht dem Mainstream folgt und mit wenig PR-Budget auskommen musste, in Wien dennoch ist. To be continued wäre genial.

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