East meets West und Antike trifft auf 21. Jahrhundert. Was sich wie der Überblick einer Pariser Modesession anhört, ist etwas ganz anderes: eine ultrakurze Zusammenfassung jener Ideen, mit welchen der Schotte David Mc Vicar der Götterdämmerung, also dem Schlusspunkt von Wagners Ring der Nibelungen, an der ONR (Opéra national du Rhin) in Straßburg Leben eingehaucht hat.
Der Rhein trennt vor den Toren Straßburg Frankreich von Deutschland und die wechselvolle Vergangenheit, die das Elsass mit Deutschland verbindet, hat hier tiefe Spuren hinterlassen. Von einer Glorifizierung der deutschen Vergangenheit ist man hier meilenweit entfernt und schon deswegen hat der Regisseur gut daran getan, seine Götterdämmerung, wie davor schon die anderen Teile des Ringes, nicht in einer deutschtümelnden Soße zu servieren. Vielmehr inszenierte er die Oper als ein finales Spiel von Liebe, Macht, Geld und Schicksal quer durch die Jahrhunderte, ausgestattet mit Masken und Kostümen aus vieler Herren Länder.
Ob mit asiatischen Anklängen, wie sie aus dem traditionellen Japanischen No-Theater bekannt sind, ob mit antiken Masken, die ernste und betrübte Gesichter zeigen (niemals lachende!) oder ob mit solchen, die beinahe auch dem Karneval in Venedig entsprungen sein könnten. Immer sind es diese, das Gesicht bedeckende Utensilien, die gemahnen: Achtung, hier ist nicht die Person, sondern ihre Funktion oder gar menschliche Universalität ihres Charakters angesprochen. Dazu passend die Kostüme (Jo van Schuppen): Gunther und Gutrune protzen in Goldroben als würdige Repräsentanten jeglicher denkbarer Macht. Die drei den Schicksalsfaden spinnenden Nornen hangeln sich in langen, schwarzen, Unheil verkündenden Gewändern an veralgten Tauen quer über die Bühne. Ihre Gesichter bleiben unter weißen, asiatisch inspirierten Halbmasken versteckt. Das Heer der Gibichungen wiederum verbirgt seine menschlichen Züge unter schwarzen Augenmasken und wird von seinen Anführern – japanischen Samuraikämpfern – ebenfalls asiatisch determiniert.
Mc Vicar lässt – zumindest auf weite Strecken – einzig und alleine seine Hauptpersonen unmaskiert . Siegfried (Lance Ryan) darf sich so als unbekümmerter junger Held präsentieren, der sich jeder Gefahr widersetzt und nur mit der Tarnkappe auf dem Kopf eine beinahe schon skurrile Figur abgibt. Das mit Goldpailletten besetzte Tuch, aus dem lediglich 2 breitere Augenschlitze ausgeschnitten sind, erinnert mehr an eine Faschingsverkleidung für die Disco denn an jenes Zauberutensil, mit welchem der Drachentöter sich flugs an jeden Ort wünschen kann – und das noch dazu in jeder x-beliebigen Gestalt. Brünnhilde bezaubert ihn in langem, roten, weich fließendem Abendkleid, selbstverständlich mit langen, roten, weich fließenden Haaren. Sie ist jene unumstrittene Galionsfigur, der Wagner gleich mehrere Charakterebenen zugestand. Liebend und hassend, nachtragend und verzeihend, reflektierend und vorausblickend übertrifft sie mit ihrer Charakterstärke zum Schluss sogar jene, von denen sie angenommen hat, dass diese ihr Schicksal zerstört haben – nämlich die Götter.
Hagen, der verschlagene Bösewicht, tritt ebenfalls als japanischer Samurai mit langem Speer bewaffnet auf, dessen Speerspitze am Ende unter Brünnhildes Hand zu brennen beginnen wird, um Siegfrieds Scheiterhaufen in Brand zu setzen. Wie sehr der jeweilige Zeitgeist die Interpretation eines universellen Kunstwerkes beeinflusst, kann zuvor jedoch noch an jener Szene aufgezeigt werden, in welcher Alberich, der ursprünglich das Rheingold den Nixen entwendete, um daraus den Ring der Nibelungen zu schmieden, seinem Sohn Hagen im Traum erscheint. Als alter, zerlumpter Mann bringt er den Schlafenden dazu, den einst ihm entwendeten Ring an seiner statt wieder an sich zu nehmen. Dabei blitzt heutzutage unweigerlich jene Frage durch, die aktuell in der Wissenschaft heiß diskutiert wird: Inwieweit ist der Mensch für seine Taten tatsächlich verantwortlich oder kann er sich aufgrund von genetischer Prädisposition moralisch aus dieser Verantwortung drücken? Wer sich diesem Gedankengang nicht anschließen mag dem sei gesagt, dass vielschichtige Kunstwerke auch vielschichtige Interpretationen zulassen. Sowohl von den Regisseuren als auch den Kritikerinnen und Kritikern.
Im großen Finale, in welchem die immer noch liebende Brünnhilde mit Grane, Siegfrieds Pferd, den Scheiterhaufen besteigt, auf welchem ihr rücklings von Hagen erstochener Siegfried aufgebahrt liegt, werden währenddessen große, schwarze, rauchende Masken vom Schnürlboden herabgesenkt. Das brennende Walhalla reduziert sich auf diese verkohlten Überreste, welche den Tod der Götter verdeutlichen. Subtil ist hier der Fingerzeig des Regisseurs: „Seht her: was von den Göttern blieb, sind nur diese überdimensionierten angebrannten Masken.“ Dieses, die Inszenierung so durchgängig bestimmende Attribut fungiert letztlich auch als verbindendes Symbol zwischen den Menschen- und Göttergeschlechtern. Und es macht klar: Das eine ist wie das andere – und ganz zum Schluss doch nur vergängliche Imagination.
Das Bühnenbild (Rae Smith), das sich mehr im Design denn im Erzählen der Umgebung wohlfühlt, lenkt die Handlung stringent auf die Befindlichkeiten der Protagonisten. „C´est pas Kitsch“ – wie es ein Opernbesucher in der Pause mir gegenüber ausdrückte, was schön auf den Punkt gebracht war. Smith gelang damit – parallel zu den Kostümen – eine universale und keine örtliche Verankerung des Geschehens. Brünnhildes Felsen zeigt sich als ein in drei Teile zerfallener Kopf einer antiken Heroensukulptur. Die Gibichungen residieren umgeben von japanischem Flair und zeigen damit, dass es machthungrige Geschlechter überall auf dieser Erde gibt und der Rhein könnte anders benamt, auch außerhalb Europas blau wogend seine Töchter beherbergen. Gerade diese durchgehende Stringenz der zeitlichen und örtlichen Abstraktion sowie der durch die Masken deutliche Hinweis auf eine Allgemeingültigkeit der Charaktere macht den großen Reiz dieser Inszenierung aus. Wagners Grundthema – der Auseinanderfall der Weltharmonie durch die Zerstörung ihrer natürlichen Grundgesetze – erhält ausgerechnet in diesen Tagen durch die Atomkatastrophe in Japan eine Art Bestätigung. Die Atomreaktoren von Fukushima rauchen – wie die verkohlten Göttermasken auf der Bühne in Strasbourg.
Lance Ryan als Siegfried zeigte zumindest in der von der Rezensentin besuchten Vorstellung leichte stimmliche Ermüdungserscheinungen. Fast könnte man neidisch auf die Premierenkritiker werden, die, schenkt man den Artikeln Glauben, den Amerikaner in einer exzellenten Verfassung hören durften. Sein stark eingefärbter Dialekt fiel wahrscheinlich nur dem deutschsprachigen Publikum richtig auf. Ganz anders hingegen Jeanne-Michèle Charbonnet als Brünnhilde, die textklar und lyrisch-kraftvoll im stimmlichen Ausdruck überzeugte. Robert Bork als Gunther und Nancy Weissbach als Gutrune sind als Idealbesetzungen hervorzuheben, Daniel Sumegis Bass gab Hagen jenes Gewicht, mit welchem er glaubwürdig seinen Machthunger demonstrieren konnte.
Nach seinem Dirigat der Walküre 2009 stand Marko Letonja bereits zum zweiten Mal am Pult der ONR, von wo aus er das OPS (Orchestre Philharmonique de Strasbourg) sicher durch das musikalische Geschehen leitete. Für den slowenischen Dirigenten war es so etwas wie ein kleiner, gelungener Einstand, wurde er doch erst vor wenigen Wochen als Nachfolger von Marc Albrecht für das OPS designiert.