Was muss man über die Entstehung eines Kunstwerkes wirklich wissen?

Was muss man über die Entstehung eines Kunstwerkes wirklich wissen?

Michaela Preiner

Foto: (Phile Deprez )

24.

Juli 2022

Jan Lauwers schuf mit seiner „Needcompany“ ein multidimensionales künstlerisches Meisterstück.

Vor einigen Dekaden – ob es heute noch so ist, weiß ich nicht – lernte man im Kunstgeschichtsstudium eine ganze Menge. Vor allem Stilrichtungen und ihre geografischen Verbreitungen. Man studierte Bauwerke, Gemälde und Skulpturen und stellte Vergleiche an. Und wenn man schon Ikonografie-Vorlesungen genossen hatte, dann war man auch imstande, die für Laien verborgene Aussage einzelner Kunstwerke zu deuten. War man nach 8-plus-x-Semestern fertig und durfte einen akademischen Titel vor seinen Namen stellen, fand man sich plötzlich oft in der Verlegenheit, biografische Angaben von Künstlern und Künstlerinnen nur höchst rudimentär erzählen zu können. Ihnen war nahezu kein Raum im Studium gewidmet, wenn, dann eignete man sich diese selbst an oder las im akuten Bedarfsfall nach. Für Kunstwerke selbst jedoch galt und gilt auch heute noch ein ungeschriebenes Gesetz: Sind sie gut, brauchen sie keine biografischen Ergänzungen.

Jan Lauwers, belgischer Theaterregisseur, der ursprünglich in Gent an der Kunstakademie Malerei studiert hatte, setzt mit seinem neuen Stück „All The Good“ viele Duftmarken in Richtung Kunstwerksentstehung und deren biografische Hintergründe. Präsentiert wurde es im Rahmen des Impuls-Tanz-Festivals im Volkstheater in Wien. Mit der von seiner Frau Grace Ellen Barkey und ihm mitbegründeten Needcompany bot er dem Impulstanz-Publikum im Volkstheater Einblicke in die Entstehungsgeschichte eines speziellen Kunstwerkes. Dabei legte er nicht den Fokus auf eine ikonografische Betrachtungsweise und deren philosophische Hintergründe. Ganz im Gegenteil. Das nur zaghafte Voranschreiten der Entwicklung des Objektes, ausgestattet mit geblasenen Glastropfen eines palästinensischen Glasbläsers, bildet nur den Hintergrund für eine plastisch erzählte Familiengeschichte, die zu Ende der Vorstellung, völlig aus dem Lot gerät. Und sie bildet auch den Hintergrund einer sehr subtilen Israel-Anklage. Einer Anklage, bei der es jedoch keine Sieger und Besiegte, sondern nur Verlierer gibt.

Bis es aber so weit ist, verdichtet sich das Geschehen – untermalt durch Live-Musik von Maarten Seghers und drei weiteren Musikern auf dramatische Art und Weise. Da werden die Eltern Jan und Grace Ellen durch die Beziehungs-Aktionen ihrer Kinder Romy Louise und Victor Lauwers hart auf die Probe gestellt. Da fällt die Erkenntnis, dass auch noch so schockierend gemeinte Kunstaktionen heute weder schockieren noch originär sind. Eine coram publico stattfindende Koitus-Szene verwandelt sich anschließend in ein albtraumhaftes Geschehen eines traumatisierten, ehemaligen israelischen Kampfsoldaten.

Die Frauen, Grace Ellen, Romy Louise und Inge (Victors Partnerin) drücken durch ihre feministischen Auslegungen gehörig auf das Gas, wenn es um neue Betrachtungsweisen historischer Kunstwerke, aber auch aktueller Kunstproduktionen geht. Dennoch vermitteln alle den Eindruck, sich gegen die männliche Dominanz nicht konsequent zur Wehr setzen zu können. Grace Ellen wird bei ihrer Erzählung über ihre künstlerische Arbeit von ihrem Mann jäh unterbrochen. Romy Louise verteidigt ihren Partner Elik ohne Not bis aufs Blut gegen die Fragen ihrer Mutter. Dass Elik als ehemaliger israelischer Soldat getötet hat, weiß sie; näheres dazu will sie aber nicht hören und belässt diese Ereignisse gerne in der unausgesprochenen Vergangenheit. Inge Van Bruystegem tritt nur dann aus der Rolle der Atelier-Handlangerin heraus, wenn sie über das Leben von Artemisia Gentileschi spricht. Jener Renaissance-Malerin, die von ihrem Lehrer missbraucht wurde und mit ihren Selbstporträts Kunstgeschichte schrieb. Dass der Malerin zur Überprüfung ihrer belastenden Aussage Daumenschrauben angelegt wurden, ihrem Peiniger aber danach nichts weiter passierte, diese Ungerechtigkeit will Elke allen drastisch vor Augen führen. Dafür nimmt sie sogar in Kauf, Victor zu einer Wiederholungstat anzustacheln. Einem sensiblen jungen Mann, der sich dem jedoch komplett verweigert.

Uneingeschränkter Herrscher über das Familiengeschehen ist jedoch Jan Lauwers, der sein Alter-Ego auf der Bühne durch Benoit Gob darstellen lässt. Zwar erläutert Lauwers anfänglich die Szenerie und stellt alle Beteiligten vor, bleibt danach aber stets beobachtend und kaum eingreifend im Hintergrund. Zwischendurch werden immer wieder Kunstwerke eingeblendet, über die Jan kurz doziert. Dann wieder wird getanzt und gesungen – Maarten Seghers beweist bei zwei Auftritten sowohl seinen schönen Bass als auch wohlklingenden Tenor. Immer wieder ärgert sich das Ensemble, dass der elektrische Antrieb für das glasbestückte Kunstwerk nicht so richtig funktioniert. Ein Fuchs beißt zur Abwechslung einer Taube in bester Dada-Manier den Kopf ab und immer wieder drängt sich eine Ratte an den vorderen Bühnenrand, um ihre Sicht auf die Dinge besserwisserisch darzulegen.

Eine Szene löst die nächste ab, Kostüme werden gewechselt und nach der Offenbarung, dass der Künstler Jan Lauwers sich sexuell enthält, um den energetischen Schaffensfluss für sein Glas-Kunstwerk nicht zu stören, kracht es richtig im familiär-freundschaftlichen Gebälk. Die banale Tatsache der geschlechtlichen Abstinenz lässt das familiäre Gefüge komplett aus dem Lot geraten. In weiterer Folge durch eine Seitensprung-Geschichte, die in fast identischer Konstellation ungezählte Male auf dieser Erde vorkam, vorkommt und noch vorkommen wird.

Damit hat man sich gänzlich von der aktuellen Kunstproduktion, aber auch den historischen Überlegungen zu verschiedenen Kunstwerken entfernt. Nun wird gestritten, werden Vorwürfe gemacht, nun ist man zutiefst beleidigt und sich nicht mehr sicher, ob nach dieser Auseinandersetzung jemals noch ein harmonisches Familienleben zustande kommen wird. Das pralle Leben mit all seinen Verwerfungen ist es, das jetzt in den Vordergrund tritt.

Wie weggeblasen sind alle kunsttheoretischen Fragen. Diese darf sich das Publikum im Anschluss an die Vorstellung selbst stellen. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass ein Kunstwerk zwar von Erzählungen lebt. Von solchen, die sich durch Assoziation ad hoc einstellen, aber auch von solchen, die über es berichtet werden. Würde sich das um seine eigene Achse drehende Objekt mit seinen blau-türkisen Glastropfen in einem Museum befinden, dann würde rein gar nichts auf seine Entstehungsgeschichte inmitten einer familiären Tragik-Komödie hindeuten. Dann würde sich das ungeschriebene Gesetz bewahrheiten, dass ein gutes Kunstwerk keine biografischen Anhänge benötigt, um gut zu sein.

Die intelligente Show öffnet mehr Fragen als Antworten. Sie verhüllt mehr, als sie zeigt – lässt das Publikum im Ungewissen, welche Aussagen wahrheitsgetreu zu nehmen sind und welche rein einer theatralen Dramaturgie folgen. Gewiss scheint nur ein ewiger Kreislauf zu sein. Ein Kreislauf, der tatsächlich durch einen nicht enden wollenden Lauf um das Kunstobjekt von allen Ensemblemitgliedern abgehalten wird. Requisiten werden dabei aufgehoben, mitgeschleppt, wieder fallen gelassen, um von anderen erneut aufgehoben zu werden. Das ewig Menschliche – das Tun – bleibt als Konstante eines kreativen Prozesses bestehen. Eine Produktion, wie aus dem Bilderbuch: Klug, witzig, tiefgründig, abwechslungsreich und kurzweilig. Und eine Produktion, die man sich mehrere Male ansehen kann!
 

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