Nur noch Alpenmilch, Noisette und Vollmilch!
Nur noch Alpenmilch, Noisette und Vollmilch!
Michaela Preiner
Sie erzählen von ihren Marotten, ihren Ängsten oder ihren Schwächen, ihren Vorlieben und Wünschen und spiegeln dabei viel von jenem Zeitgeist wider, in dem wir uns alle befinden. „Wie geht es weiter – die gelähmte Zivilgesellschaft“, diese Neuproduktion, die im WerkX im Juni Premiere feierte, verhandelt eine ganze Menge an Themen, die vielen von uns unter den Nägeln brennen. Oder brennen müssten. Angefangen von Afrika – „Afrika ist ein RIESENTHEMA!“ – so Bilgeri mehrfach, über prekäre und luxuriöse Wohnverhältnisse bis hin zu reuelosem Schokoladegenuss und politischen, braunen Sümpfen in Österreich spannt sich dieses Mal der Themenbogen.
So sehr sich die anderen darum bemühen, erfolgreich und angepasst zu sein, so sehr sie versuchen sich selbst zu optimieren und dabei jedoch regelmäßig scheitern, so sehr stellt Vanyek einen Antipoden dar, dem das alles schnell zu viel, zu laut und zu blöd ist. Er beschäftigt sich mit der Langsamkeit des Lebens, oft auch mit dem Nichtstun, für das er viel Zeit braucht und – er ist jene Figur in den aktionstheater ensemble-Aufführungen, bei der klar wird, wie irrsinnig unsere hektische Welt und unser Verhalten angelegt sind. Dabei bietet er eine wunderbare Projektionsfläche für Wünsche, die sich der strebsame Mensch nicht einmal im stillen Kämmerchen zu denken getraut: Ein ruhiges Leben führen, sich mit sich selbst beschäftigen und auch sich selbst genügen – eine paradiesische, aber in unserer geldoptimierten Welt schier unausführbare Vorstellung.
In dieser jüngsten Aufführung sind es zwei Aktionen, die das temporeiche, verbal Diskursive, das kennzeichnend für dieses Theater ist, sprengen. Es sind die heftigen Schmuse-Attacken von Michaela Bilgeri mit zwei ihrer Kollegen, während derer jedoch das erzählerische Geschehen ungebremst weiter läuft. Und dann ist da noch der minutenlange Schrei von Benjamin Vanyek nach seiner Mutter, untermalt mit einem ohrenbetäubendem Hard-Rock-Sound.
Ausgelöst wurde diese Aktion, bei der er schweißdurchtränkt und schokoladeverschmiert vor allen anderen am Boden sitzt, durch seine vorherige Erzählung. In dieser schilderte er, wie seine Mutter löwenhaft, wenngleich auch „etwas übertrieben“ darum kämpfte, die Wohnung nach einem Mietrückstand für sich und ihre vier Kinder nicht zu verlieren.
Der anschließende, exzessive Schokoladegenuss – nur mit Alpenmilch, Noisette und Vollmilch wohlgemerkt – löst bei ihm wie in einem Backflash ein Sehnsuchtsgefühl aus, das viele kennen. Es sind Momente wie diese, die betroffen machen und von welchen man weiß, dass das, was hier auf der Bühne geschieht, stellvertretend für das Publikum passiert, das nur stumm sitzt und schaut.
Bilgeri knutscht für all jene, die sich vielleicht gar nicht mehr daran erinnern können, wie sich intensiver Körperkontakt anfühlt. Benjamin Vanyek brüllt sich die Seele aus dem Leib für alle, welche den Wunsch, wieder mutterumsorgt Kind zu sein ebenso hinausbrüllen möchten, es aber aus raisonablen Gründen niemals tun würden.
"Wie geht es weiter" (Fotos: Gerhard Breitwieser)
Kopf, Emotion und dazu eine große Portion Humor – gespeist aus der Unzulänglichkeit von uns allen und dem nicht erklärbaren Wahnsinn unserer Welt – sind Fixpunkte in den aktionstheaterensemble-Inszenierungen. Auch die sichere Wiederkehr dieses Triumvirats macht den Erfolg dieses Theaters aus, dessen Fangemeinde wächst und wächst und für dessen Vorstellungen man früh genug Karten kaufen muss, um einen Platz zu bekommen. To be continued – am besten mit Ende nie – ist ein frommer Wunsch – den man ja noch träumen wird dürfen.