In ihr vereint finden sich die Ensemble-Kapazunder Michaela Bilgeri, Thomas Kolle, Kirstin Schwab, Tamara Stern und Benjamin Vanyek. Bei jeder Produktion freut man sich auf ein Wiedersehen mit der einen oder dem anderen von ihnen. Dass sie aber so geballt auf das Publikum losgelassen werden, ist wie Ostern und Weihnachten zugleich. Denn bei diesen Fünf kommt man aus dem Schauen, Staunen, Lachen und Wundern nicht mehr heraus.
Sie sorgen nicht nur für eine intensive, atemberaubende Bühnenpräsenz, sondern liefern gewöhnlich auch eigene Wortspenden für den Text ab. Daraus ergibt sich eine Wahrnehmungsmischung, die dem „aktionstheater ensemble“ eigen ist. Stimmt es, dass Thomas Kolle ein philosemitisches Erlebnis hatte? Macht Kirstin Schwab tatsächlich bei Lach-Seminaren mit? Ist Barbara Streisand DAS große Vorbild von Benjamin Vanyek? Meint es Michaela Bilgeri ernst, wenn sie Ü-40-Jährigen rät, den Nazi-Charakter eines Partners wegzustecken, wenn er sonst „eh so lieb ist?“ Und fühlt sich Tamara Stern tatsächlich mit ihrer komödiantischen Begabung missverstanden?
Voyeurismus als Publikumstriebfeder
Fragen über Fragen, auf die es keine Antworten, nur Vermutungen gibt, die aber die Lust am Voyeurismus des Publikums bestens bedienen. Das, was außerhalb des Theatersaals als völlig unpassend gilt, nämlich ein Aufdeckenwollen von psychischen Untiefen des jeweiligen Gegenübers, dem darf man im geschützten Raum des Theatersaals ungeniert nachgehen. Mehr noch: Das Ensemble fördert mit seinem Seelenstriptease diese Lust der Teilhabe an der charakterlichen Entblößung ganz bewusst. Dabei gibt es keine scharfe Trennung zwischen persönlich Erlebtem und philosophischen oder gesellschaftspolitisch aktuellen Fragen. Denn auch letztere werden immer in Geschichten eingebettet, die zumindest tatsächlich erlebt erscheinen.
Die Frage nach der Hegemonialmacht der Aufmerksamkeit und Legitimität von Randgruppen wird heruntergebrochen auf Benjamins Ärgernis mit Wal- oder Froschmenschen, die er „so unsympathisch findet“. Da nützt es auch nichts, wenn Thomas ihn darauf aufmerksam macht, dass Benjamin selbst zu einer Randgruppe gehört, die wiederum andere Menschen stört. Die große Kunst in diesen Szenen ist aber nicht die Überspitzung von Situationen, die für gute Schauspielerinnen und Schauspieler ein wahres Fressen sind. Die große Kunst, die Martin Gruber unumwunden beherrscht, ist das Aufgreifen von Themen, die einerseits tagesaktuell sind, andererseits aber zu den Grundfragen unseres gedeihlichen Zusammenlebens gehören. Und dies ohne jeglichen erhobenen Zeigefinger und ohne letztlich ein abschließendes Urteil fällen zu wollen oder zu können.
Rebellion als Einzelunterfangen
So manches, oder besser, fast alles, was uns im Leben Kopfzerbrechen macht und uns vor Herausforderungen stellt, lässt sich nicht mit einfachen Erklärungen vom Tisch wischen.
Weder die schwierige Verständigung mit rumänischen Bauarbeitern, die Kirstin mittels einer Sprachapp zu überwinden versucht, noch Benjamins Gesangs-Faible, das er penetrant auf Tamara übertragen möchte. Schon gar nicht der aussichtslose Kampf gegen die globalisierte Industrialisierung, die uns alle zu Konsumdeppen macht, die sich dagegen jedoch nicht wehren können. Dieses Mal wird die musikalische Begleitung in der letzten Publikumsreihe versteckt, aber dennoch live, produziert. Es sind durchgängig harte Beats, zu welchen das Ensemble immer wieder auch Gruppenchoreografien abliefert, die Aggressionen zum Ausdruck bringen, die sich dort ihre Bahn brechen können. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ – der Song der Gruppe „Ton Steine Scherben“ aus dem Jahr 1970, von Nadine Abado, Andreas Dauböck und Pete Simpson aus dem besagten Off intoniert, macht klar, welches der Kern von „Morbus Hysteria“ ist: Rebellion. Auch wenn diese von der neoliberalen Wirtschaftsdenke in den ganz persönlichen Bereich verschoben wurde.
„Homo homini lupus“ darf man nicht nur im alltäglichen Umgang miteinander erleben. Auch das Ensemble exerziert dies brachial vor. Diese Einstellung ist auch dafür verantwortlich, den wahren Wolf, kaum wieder in eine größere Population gebracht, so rasch wie möglich auszurotten. Dass auch diese Gedanken beim Publikum ankommen, dafür sorgen Valerie Lutz mit der Bühnen- und Kostümausstattung, sowie Resa Lut, die ein unaufdringliches, aber tierisches Video in diese Richtung beisteuert.
Die Verschränkung von Spaß und Alltagsgrauen, von Freude am Leben und einem scheinbar aussichtslosen Stemmen gegen Ignoranz und Machtgier, Dummheit und bewusstem Verbrechen, all das findet sich in dieser Produktion. Die Kreativität, die Lust am Spielen und am Theatermachen, das ästhetische Endergebnis – all das gibt es wiederum gratis obenauf. Mehr Rechtfertigung für dieses Theater gibt es nicht.