Ach du mein Vater!

Der übermächtige Vater

Im kleinen Schreibzimmer sitzt Kenji an seinem Tisch und versucht eine mathematische Aufgabe zu lösen. Hinter ihm Regale mit Büchern, an den freien Wandflächen darüber Portraits von honorigen Ahnen, die streng auf den jungen Mann blicken. Einzig der niedrige Tisch und das Sitzkissen machen deutlich, dass sich der Raum in Japan befindet. Kenji scheint um sein Leben zu rechnen. Wie besessen beginnt er stets von Neuem sich in die Gleichung zu vertiefen, scheitert jedoch schon nach kurzer Zeit. Als schließlich sein Vater das Zimmer betritt, kommt Kenji unter zusätzlichen Stress. Ob er denn endlich die Rechenaufgabe gelöst hätte möchte sein Vater streng von ihm wissen und auch, wieviele Jahre er jetzt schon am Gymnasium sei. 28 sind es bereits antwortet ihm sein eingeschüchteter Sohn, was sofort mit einer Stockzüchtigung bestraft wird. Er sei alt und würde demnächst sein Krankenhaus schließen lässt ihn sein Vater noch wissen, bevor er polternd das Zimmer Kenjis wieder verlässt. Der junge Mann zieht sich in seine Schlafkoje zurück und beginnt aus einem Wust von Papieren laut vorzulesen. So erfährt das Publikum, dass er früh Waise geworden war und von zwei Hausangestellten erzogen wurde. Eine seiner prägendsten frühkindlichen Erinnerungen war der Anblick seines nackten Vaters, dessen überdimensionierten Penis ihn allabendlich in Staunen versetzte.

Die Kiste im Baumstamm, Wiener Festwochen (Foto: AKI TANAKA)

Die Kiste im Baumstamm, Wiener Festwochen (Foto: AKI TANAKA)


Kuro Tanino, japanischer Autor und Regisseur, zeigte im Rahmen der Wiener Festwochen sein bildermächtiges Stück „Die Kiste im Baumstamm“. Dafür hat der zum Psychiater ausgebildete Theatermann über zehn Jahre lang die einzelnen Bühnenbilder in seiner eigenen Wohnung zusammengebaut und geheime Vorführungen für interessierte Maniaks gegeben. „Meine Veranstaltungen waren nicht angemeldet, das konnte ich gar nicht in meiner eigenen Wohnung“ erklärte er in einem Publikumsgespräch. 25 Besucherinnen und Besucher konnten seine ca. einstündigen Vorstellungen verfolgen, die jeweils nur im Setting eines Bühnenbildes stattfanden. Erst nach dem großen Erdbeben 2011, nach welchem er sein Appartement verlassen musste, das sich in einem alten Haus befunden hatte, ordnete er die in den Jahren entstandenen verschiedenen Bühnenbilder zu einer Abfolge von Räumen, die im Brut mit einer Art Drehbühne das Publikum verzauberte.

Archaische Figuren die sich rätselhaft benehmen

Doch es waren nicht nur die Räume allein, die beeindruckten. Tanino arbeitet darüber hinaus mit einer Reihe von archaischen Gestalten wie einem Schwein, einem Schaf und einem Stier, die allesamt menschliche Züge tragen, sich aber dennoch höchst rätselhaft benehmen. Das kleine, dicke Schwein tut das am liebsten, was Schweinen im Allgemeinen nachgesagt wird: Fressen. Genüsslich lutscht es am Saft eines Baumstammes, der mitten in sein Zimmer ragt, dessen Wurzeln aber in eine darunter liegende kleine Höhle reichen. Diese halten den darin schlafenden Kenji so fest umklammert, dass er in Panik ausbricht, als er erwacht. Die Phallussymbolik liegt hier offen zutage, zumal Kenji auch bei jeder Berührung, die das Schwein dem Baumstamm angedeihen lässt, Erektionen bekommt. Ganz anders als das kleine, gedrungene Schwein benimmt sich sein Freund das Schaf. Eine schlanke, hohe Gestalt, bekrönt mit einem schwarzen hutähnlichen Gebilde aus dem zwei mächtige Widderhörner herausragen, liegt sein größtes Glück im Schlaf. Kuro Taino, der eine Menge Autobiografisches in seinem Stück verarbeitet hat, setzt das Schwein mit jenem Zustand gleich, den er selbst während seiner Studien oft verspürte: Aus Zeit- und wohl auch aus Geldmangel konnte er in seiner Studentenzeit nur wenig essen und litt unter Hungerattacken. Der verminderte Schlaf wiederum, den er sich aus Zeitmangel nicht ausreichend gönnen konnte, spiegelt sich in der Traumfigur des verschlafenen Schafes wieder.

Taninos Stück liegt, wie er betonte, keine Selbstanalyse zugrunde, vielmehr wäre er dankbar für die Interpretationen seiner Träume, falls dies jemandem gelänge. Abwegig ist dies nicht, denn im Publikum saßen in der zweiten Vorstellung eine große Anzahl von männlichen und weiblichen Psychiatern, die in den Traumsequenzen sicher ein großes Interpretationsfeld vorfanden. „Ich habe versucht, meine Träume so genau wie möglich wiederzugeben“ und tatsächlich taucht man von einer surrealen Sequenz in die nächste, durchbricht Kenji eine Wand nach der anderen, um sich in immer neuen räumlichen Konstellationen zu befinden, die jede für sich andere emotionale Aussagen beheimaten. Da gibt es den Himmel – einen blau gekachelten Raum voll mit überdimensionierten Phallussymbolen. Ein anderes Mal ist Kenji in der Hölle gefangen, einem niedrigen, weiß gekachelten Raum, in dem man nur sitzen, aber nicht stehen kann. Medizinische Fläschchen und Geräte aber auch viele kleine Phalli bilden die Ausstaffierung. Gerade in diesem Raum wird Kenji in einer Traumszene von der Inzestlust mit seinem Vater heimgesucht. .

Da gibt es aber auch ein Zimmer, das als eine spezielle Art von Restaurant fungiert, ein Zwischenraum zwischen Himmel und Hölle, in dem Kenji vom Schwein und dem Schaf allerhand Unverdauliches Getier zum Essen kredenzt wird. In diesem eigenartigen Jagdzimmer, voll mit unterschiedlichen Trophäen an den Wänden, sitzt sein Vater in Stiergestalt und spielt unablässig Klavier, ohne sich um Kenji zu kümmern. Doch egal in welchem Raum sich der Vaterhörige stets unfreiwillig befindet – immer kämpft er um Liebe und Anerkennung und gegen die Angst, nicht zu genügen und zu versagen.

Glücksmomente beim Musizieren

Es sind nur zwei Momente im Verlaufe des Abends, in welchen der auf seinen Vater fixierte Kenji ganz zu sich selbst zu finden scheint. In jenem Augenblick, in dem er mit ihm im Zwischenraum das erste Mal gemeinsam Klavier spielt und ein zweites Mal, als er mit ihm, dem Schwein und dem Widder den berühmten vierstimmigen Kanon von Pachelbel auf einer Flöte intoniert. „Mach ich das gut Vater?“, fragt er dabei immer wieder und läuft unter seinem Lob schließlich zur Höchstform auf. Auf die Frage, warum es ausgerechnet dieses Musikstück ist, das Kenjis Vater zu seinem Lieblingsstück auserkoren hatte, erklärte der Autor, dass ihm die Form des Kanon wichtig gewesen sei. Eine musikalische Form, die sich ständig wiederholt und kein Ende zu finden scheint. Und so ist es auch mit Kenjis Träumen und Ängsten. Sie kommen nie an ein Ende, haben kein Happyend, sondern beginnen stets von Neuem, ohne jedoch essentiell Neues zu produzieren. Was bleibt, ist die Angst und ganz zum Schluss auch noch der Verlust der eigenen Männlichkeit. „Wo ist er hin, hab ich ihn verloren?“ ruft Kenji nach einem Blick in seine Hose panisch ins Publikum und beginnt mit der hektischen Suche nach seinem Glied. Wohin diese Suche führt, kann nach all den vorangegangenen Szenen leicht vorausgesagt werden, nämlich von einer angstbesetzten Traumsequenz in die nächste. Ikuma Yamada, Ichigo Iida, Momoi Shimada und Taeko Seguchi gelingt in ihren Rollen jeweils eine einprägsame Charakterstudie. Der bis zur völligen körperlichen Verausgabung agierende Kenji, sein massiger Vater, dessen Lachen den Saal mit Leichtigkeit ausfüllt, das dumme, kleine Schwein, das dennoch so viel Herz besitzt, dass es Kenji helfen kann und das schlafwandlerische Schaf, das aus einer anderen Welt in Kenjis Träume einbricht – sie alle sind maßgeblich daran beteiligt, dass der Abend an Dichte und Intensität kaum zu überbieten ist.

Kuro Tanino als psychologischer Sonderfall

„Einen Fall wie mich hatte Freud sicher nicht, entstamme ich doch einer Familie, in der alle Psychiater sind. Ich selbst bin ausgebildeter Psychiater, übe den Beruf aber nicht mehr aus, meine Mutter, mein Vater, mein Onkel und mein großer Bruder sind alle Psychiater. Da kann man doch nicht ganz normal bleiben!“ Kuro Tanino offenbarte mit dieser Aussage dann schlussendlich doch noch eine Art schonungslose Selbstanalyse, die jedoch wohl eher als „fishing for compliments“ gedacht gewesen sein dürfte. Neben all den fantastischen und absurden Bildern, die der Regisseur so suggerierend auf die Bühne stellt speist sich die Faszination seines Stückes andererseits auch aus der Befriedigung eines gewissen Seelenvoyeurismus. Die vermeintliche Möglichkeit, ins Innerste eines anderen Menschen blicken zu können, ohne ihm persönlich nahe treten zu müssen, beinhaltet ohne Zweifel einen gewissen Nervenkitzel. Und doch ist „Die Kiste im Baumstamm“ nichts anderes als die Neuauflage eines Grimm´schen Märchens, hinter dem jedoch nicht nur archetypische Verhaltensmuster und Figuren, sondern vor allem die Errungenschaften der Psychoanalyse liegen. Grimms Märchen post Freud – vielleicht schuf Tanino eine neue literarische Gattung, als deren Vater er zu bezeichnen wäre. Damit zumindest wäre sein Alter Ego Kenji aus dem Schatten seines Erzeugers getreten und das noch dazu „ganz unbewusst“. Welch schlüssige Ironie!

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