„3 Sekunden.“ Ein Stück über das Leben, den Tod und die Angst vom Aktionstheater ensemble und Wolfgang Mörth kam in Wien im Werk X – Eldorado am Petersplatz zur Aufführung.
Nackte Neonröhren hängen von der Decke. Bilden den seitlichen Abschluss der schwarzen Bühne. Kaltes Licht, mehr ist nicht da. Darin bewegen sich drei Figuren in gleichen Bewegungsabläufen. Gehen wie auf einem Catwalk, lockern ihre Gelenke während eines kleinen Tanzes. Verlangsamt sind ihre Schritte. Ausdruckslos ihre Gesichter. Alltag. Das, was man von Menschen sieht, wenn man sie eigentlich nicht sieht. In der U-Bahn, auf der Straße. In Büros. Hüllen, die verbergen, was unter ihren Häuten, unter ihren Muskeln und Sehen und in ihren Köpfen so vor sich geht.
Roman Blumenschein, Susanne Brandt und Kirstin Schwab liefern ihre Körper für jene seelenlosen Figuren, aber sie spielen sich an diesem Abend auch die Seele aus dem Leib. „3 Sekunden.“ so nennt sich das Stück des Aktionstheater ensemble unter der Regie von Martin Gruber. Die Textvorlage stammt, wie bei dieser Theatertformation üblich, von den Schauspielerinnen und Schauspielern selbst. Die bühnenreife Ausführung erfolgte auch dieses Mal von Wolfgang Mörth. Mit dieser Inszenierung gewann die Truppe den Heidelberger Theaterpreis 2014. „In einer szenografisch durchdachten Rauminstallation von Felix Dietlinger, im kalten Lichte, mitten in onomatopoetischen Klängen und Live-Musik von Florian Kmet, erscheinen Angstbilder, die tief tabuisierte Themen der modernen Gesellschaft entsprechen.“ Das liest man in der Juryentscheidung. Nach dem Googeln, was denn nun eigentlich onomatopoetisch bedeutet und der Erkenntnis, dass das Wort lautmalerisch synonymhaft dafür eingesetzt werden kann, darf man sich selbst seine Gedanken zum Gesehenen machen. Und die sind vielfältig.
Wollte man einen Begriff für das suchen, was hier geboten wird, täte man sich schwer. Komödie stimmt nicht, Tragödie stimmt nicht, Farce stimmt nicht, Persiflage stimmt nicht. Postdramatisches Theater stimmt nur teilweise. Es gibt vieles, das in der Zuordnung nicht stimmt und nur eines, was auf der Hand liegt. Das, was hier auf der Bühne abgehandelt, erzählt und gespielt wird ist das, was sich vor dem Theater abspielt. Das pure Leben. Mit all seinen tragischen und absurden Facetten. Mit all jenen Geschehnissen, die einem Angst einflößen. Sei es, weil sie sich schon derart ins kollektive Gedächtnis eingebrannt haben, dass man sich verwundert, wenn man nicht von ihnen ereilt wird. Wie zum Beispiel ein Flugzeugabsturz oder ein Autounfall. Sei es, weil es Begebenheiten sind, die das persönliche Ich psychisch oder physisch tatsächlich schon geschädigt haben. Wie eine Resektion der weiblichen Geschlechtsorgane oder die Hilflosigkeit nach einem traumatischen Erlebnis.
Susanne Brandt arbeitet sich gleich zu Beginn an einem Geburtstrauma ab, erzählt wenig später unter einem Lachanfall über ihr teils absurdes Familienleben im Dunstkreis des Beerdigungsunternehmens ihres Vaters und macht klar, dass eine Mutter angesichts ihres herausfordenden Sohnes nicht nur die Nerven verlieren kann, sondern die völlige Erziehungs-Überforderung ihr ständiger Begleiter ist. Die Angst, was werden wird, wie es dem Kind ergehen wird, ist nicht wegzudenken. Kirstin Schwab blödelt lange über ihre Träume, schnelle Autos und Flugzeuge zu beherrschen. Technische Fortbewegungsmittel, die den Tod in sich tragen. Die eigentliche Lebensangst jedoch nistet sich nach dem Ableben des Vaters ein. Was ist es eigentlich zu sterben, unter welchen Bedingungen geht dies vor, was geschieht dabei genau?
Während sich das Grauen ganz subtil in die Zuschauerreihen schleicht, geht das Leben indes unvermindert weiter. Florian Kmet spielt auf einer E-Gitarre harte Beats, aber auch einen lyrischen Song, dessen Text mit Alltags-Banalitäten nur so vollgestopft ist. Die Geräusche, die Blumenschein, Brandt und Schwab onomatopoetisch (muss man gleich anwenden, so ein neu dazugelerntes Wort) erzeugen, werden geloopt und in das musikalische Geschehen miteinbezogen. Während Blumenschein Roman, den Sohn Brandts spielt und dabei seinen Kopf in eine Geburtstagstorte kippen lässt, brüllt sich Schwab die Wut über das Gefühl aus dem Leib, keine „vollwertige“ Frau zu sein, weil sie keine Kinder möchte. Keine bekommen kann, wie sich ein wenig später herausstellen wird. Die Fantasien von Roman Blumenschein, in einem Auto in rasanter Fahrt einen Suizid zu begehen und sein blutverschmiertes Gesicht, das er dabei zeigt, während er diesen Gedanken analytisch seziert, auch sie sind Teil eines kollektiven Angstzustandes. Nämlich unschuldig auf der Straße „abgeschossen“ zu werden. Während die Welt um einen sich beständig weiterdreht.
3 Sekunden. Das ist die Vergangenheit, die Gegenwart und das gerade Zukünftige eines Augenblickes. Nicht mehr und nicht weniger. Danach fällt es in die Vergangenheit und ist nur mehr gefiltert abrufbar. Wie die Erinnerung an das Wetter am Todestag des Vaters. Eine zelebrierte Textpassage, die anfangs an das Diktum von Thomas Bernhard erinnert, um sich allmählich in eine kunstvolle und anschauliche Naturbeschreibung einer dennoch subjektiven Sichtweise einzupendeln. Angst ist jenes Gefühl, das am längsten an einem kleben bleibt, auch wenn der Auslöser Jahre oder Jahrzehnte zurück liegt. Die Aufarbeitung derselben für viele Menschen nicht machbar.
Musik und Lachen, Poesie und die Erzählung von absurden Szenen geben eine äußerst pikante Würze in dieser Inszenierung ab. Ohne sie wäre das, was gezeigt wird, ein Trauerspiel. Das wäre dann der richtige Begriff. Aber mit ihnen ist es das pure Leben, das sich vor dem Theater abspielt. Langanhaltender Applaus für einen kurzen, aber umso dichteren Theaterabend mit herausragenden schauspielerischen Leistungen und einer grandiosen Musik. Die lange leer stehende Bühne im Schlussbild lässt Platz für Kino im Kopf.