Die Kurzfassung eines epischen, literarischen Stoffes kann man auf zweierlei Art beurteilen. In der ersten freut man sich über ein knappes Surrogat, von dem auch Wenigleser oder Menschen mit wenig Zeit zum Bücherlesen den Kern der Sache mitbekommen können. Im zweiten Fall setzt man die Beurteilungslatte höher an und spricht von einer Essenz, in der das Wesentliche so zusammengefasst ist, dass auch das Verständnis für das Werk selbst ein tieferes sein kann.
Letzteres trifft auf die Produktion „Mahabharata“ zu, die derzeit noch an drei Tagen unter dem Titel „Battlefield“ bei den Wiener Festwochen zu sehen ist. Die Fassung ist eine auf eine Stunde und 10 Minuten gekürzte Version jener Produktion, die 1985 in Avignon mit 11 Stunden – inklusive 2 Stunden Pause – zur Aufführung gelangte. Regie führte damals wie heute Peter Brook, seines Zeichens Vordenker des zeitgenössischen Theaters und Films. Die Geschichte basiert auf dem Indischen Epos Mahabharata, die der französische Autor Jean-Claude Carrière 1990 im Goldmann Verlag herausbrachte.
Kürzen, kürzen, kürzen
Brook, heute 92-jährig, ging über die Jahre gemeinsam mit Marie-Hélène Estienne an den Stoff wie jemand heran, der auf der Suche nach jenem Nucleus ist, der nicht mehr weiter gekürzt werden kann. Aus den ursprünglichen 12 Stunden wurden erst 6, dann drei und jetzt eben besagte Kurzfassung mit 70 Minuten. Dabei verliert der Mythos jedoch nicht jenes erzählerische Kolorit, das für Indien so typisch ist. Wie aber so oft, hält sich Brook nicht an ein ländertypisches Cast, sondern lässt Menschen unterschiedlichster Herkunft und Hautfarbe in die verschiedenen Rollen schlüpfen. Womit er auch andeutet, dass er die Geschichten und Legenden, die sich um zwei Herrscherfamilien ranken, weltumspannend sieht. Bunte Fliesdecken markieren in seinem Setting auf der Bühne die einzelnen Charaktere, die trotz Mehrfachbesetzungen somit leicht wiedererkannt werden. Einige wenige Requisiten, wie aufgestellte Holzspeere an den Wänden, lassen das gewalttätige Umfeld, in dem sich die Erzählungen entfalten, spürbar werden.
Sean O´Callaghan verkörpert Dritarashta, jenen blinden König, der all seine Söhne und Enkelkinder im Krieg gegen seinen Neffen Yudishtira verloren hat. Das Publikum liebte aber vor allem seine Interpretation eines naiven aber lebenslustigen Wurmes, der sich sputen will, um die Straße vor einem herannahenden Gespann zu verlassen, das ihn überfahren und damit seinen sicheren Tod bedeuten würde. Carole Karemera (Belgierin mit ruandischen Wurzeln) spielt Yudishtiras weise Mutter, die ein großes Geheimnis mit sich trägt, das ihrem Sohn eine zusätzliche Lebensbürde auflastet.
Fabeln und Legenden mit tiefen Lebensweisheiten
Der Großvater (Ery Nzaramba – britischer Schauspieler mit ruandischen Wurzeln) soll dem jungen Yudishtira, der siegreich aus dem Kampf hervorgegangen ist, aber aufgrund des hohen Blutzolls die Regentschaft nicht übernehmen will, helfen. Dies tut er, in dem er ihm mehrere Fabeln erzählt. Darin werden so große Menschheitsthemen wie Schuld, Gerechtigkeit, Liebe, Hass und Wahrheit angesprochen.
In der Geschichte der Schlange, die ein Kind zu Tode biss, wird die Frage nach der Verantwortung aufgeworfen. Das Reptil – dargestellt durch den am Boden sitzenden Jared Mc Neill – weist jede Schuld von sich und schiebt diese an den Tod selbst weiter. Dieser wiederum verweist auf die Zeit, welche letztlich die Schuld alleinig dem Schicksal anlastet. Es sind genau diese Fragen, die wir uns selbst bei einem Unglück stellen und auf die wir meist keine Antwort finden, die in dieser jahrtausende alten Geschichte aufgeworfen werden.
Bei der Fabel um eine schutzsuchende Taube und einen Falken wiederum wird Machtanspruch verhandelt – ein allzeit brennend aktuelles Thema und mit der Figur des sich beeilenden Wurmes nehmen Brook und Estienne eine Geschichte von schier unzähligen aus dem Epos heraus, in der exemplarisch auf die Schwächsten in unserer Gesellschaft und ihr Anrecht auf Leben verwiesen wird.
Es sind Szenen wie diese, die den Abend reich machen. Weder prunkvolle Gewänder noch ein berauschendes Bühnenbild tragen die Legenden von einer Lebensweisheit zur nächsten. Das Publikum wird dabei zu einer Zuhörerschaft, die, wie das bei guten Erzählern der Fall ist, an dessen Lippen hängt. Dabei beschränkt sich die Darstellung auf Auf- und Abgänge, sowie Dialoge oder Monologe, in welchen nur an wenigen Stellen die Charaktere selbst ein wenig Farbe bekommen. Wie ein langer, ruhiger Fluss reiht sich so eine Begebenheit an die nächste. Die Szenenwechsel werden von Toshi Tsuchitori begleitet, der auf seiner Trommel stimmige Überleitungen anbietet.
Mit dieser jüngsten „Battlefield“-Produktion verweisen Brook und Estienne nicht nur auf große Themen der Menschheit, die heute, wie vor über 2000 Jahren noch immer Gültigkeit haben. Vielmehr greifen sie auf eine der ursprünglichen Funktionen des Theaters zurück, nämlich der Vermittlung von Lebensweisheiten. „Für Brook und seine langjährige Mitarbeiterin Marie-Hélène Estienne sind es die Fragen nach Verantwortung, Schuld und Vergebung in einer von Konflikten und Kriegen zerrütteten Zeit, die aus Battlefield eine Parabel für die Gegenwart machen. Diese Fragen richten sich in erster Linie an Trump, Putin, Erdogan und Assad, aber auch an alle anderen Staatsoberhäupter dieser Welt.“, ist als Anteaser auf der Homepage der Wiener Festwochen zu lesen. Die nun schon jahrzehntelange Beschäftigung von Brook und Estienne mit dem Thema zeigt auch, dass es beiden ein offenkundiges Anliegen ist, die Essenz von Mahabharata in „Battlefield“ weiterzugeben.
Lang anhaltender Applaus bei der Premiere zeigte die große Zustimmung des Wiener Publikums.