Ann Liv Young und Marino Formenti baten in einer Gesprächsreihe im brut zu Einzelsitzungen. Als Abschluss dieser Performance-Reihe gaben die beiden eine „2 become 1“ Revue, die Belustigung und Verstörung beim Publikum gleichermaßen hinterließ.
Zurzeit feiern theatrale Formate abseits des statischen Theaterraumes Hochkonjunktur. Die Raabtaldirndl ziehen mit ihrem Publikum dafür schon einmal in einer Prozession durch den Prater, das Künstlerkollektiv mercimax lockt auf einen riesigen, ungenutzten Parkplatz in Simmering. Myriam Lefkowitz nimmt Menschen an die Hand, um sie mit einer Augenbinde durch die Stadt zu geleiten. Claudia Bosse erobert den öffentlichen Raum in Wien und lädt dabei zu Einzelerkundungen in die Stadtbibliothek ein und die amerikanische Performance-Künstlerin Ann Liv Young erprobt mit Marino Formenti in Einzelgesprächen ihr „Sherapy“-Format.
Dies sind nur einige Beispiele, die sich mit dem Cross-over von verschiedenen Kunstformen beschäftigen. Wobei dennoch alle die Nähe zum Theater für sich beanspruchen. Obwohl bei allen der Begriff Performance im Spiel ist, unterscheiden sie sich dennoch durch die Rolle, die das Publikum dabei einnimmt. Zum Teil sind es Arbeiten, in welchen der reine Konsum der Darbietungen im Vordergrund steht. In anderen wieder ist aktive Mitarbeit erwünscht. Dabei genügt es nicht, sich einfach nur mit Performern auf eine Reise außerhalb von Theaterstätten zu begeben, sondern eigene Meinungen und Empfindungen, kurz persönliche Positionen einzubringen. Dieser Umstand bewirkt zugleich aber auch, dass viele Menschen eine Teilnahme scheuen.
Ein Hot-Spot für außergewöhnliche Kultur-Formate in Wien ist das brut. Dort konnten im Dezember einige Dutzend Menschen an Performances teilhaben, die von der amerikanischen Performerin Ann Liv Young und dem in Wien lebenden Pianisten Marino Formenti abgehalten wurden. Nicht mehr, denn bei „Sherapy“ handelte es sich um eine Serie von Einzelgesprächen.
Ann Liv Young, die 2016 auch bei Impuls-Tanz zu sehen sein wird, arbeitet in den USA bei diesem Kulturangebot für gewöhnlich in einem Wohnmobil, in das man, wenn es seine Tür geöffnet hat, einfach eintreten kann. Im Einzelgespräch darf man dann, wenn man will, sein Herz ausschütten und wird mit Zuspruch bedacht, der einen danach vielleicht leichter durchs Leben wandern lässt. In Wien wurde diese Aktion durch Marino Formenti komplettiert. Jedoch nicht in einem Wohnmobil, sondern in zwei neben einander liegenden, leeren Geschäftslokalen in der Praterstraße. Dort hielten Frau Young und Herr Formenti Hof, öffneten ihre „Praxis“ und ihr Atelier zu Gesprächen, oder ließen ihre Besucherinnen und Besucher an musikalischen Darbietungen teilhaben. So genau weiß man das ja nicht, denn wie gesagt, es handelte sich um Einzelsitzungen, die nicht kommuniziert wurden.
Theater und Performance-Formate beschäftigen sich in den letzten Jahren vermehrt mit der Hinwendung zu Einzelpersonen, um mit ihnen in einen direkten Austausch zu kommen. Das mag mit der hybriden Online-Welt zu tun haben, die nicht nur im Beruf, sondern auch privat immer stärker verwendet wird. Das Gespräch von Mensch zu Mensch, der Austausch von Erlebtem, bleibt bei diesem Lebensstil immer öfter auf der Strecke. Und so war es, wenn man den Aussagen von Teilnehmerinnen und Teilnehmern von „Sherapy“ Glauben schenken darf, für viele ein Erlebnis, mit ihnen bis dahin unbekannten Menschen in ein intimes Gespräch zu kommen. Mit alten Möbelstücken und in Youngs Fall auch einer mit Krims-Krams vollgeräumten Vitrine wurde versucht, so etwas wie eine heimelige Raumsituation zu kreieren, in der das Seelenöffnen leichter vonstattengehen konnte.
Nach Abschluss der Gesprächsreihe lud man ins brut zu einem 2 become 1 – Abend. An dem, wie schon in den Aktionen zuvor, die Grenze zwischen Performance, Kunst und das Zeigen von ehrlichen Gefühlen, verschwamm. Die Animositäten, oder waren es nur gespielte Befindlichkeitsstörungen, zwischen Ann Liv Young und Formenti, die schon im 1:1-Gespräch der Autorin dieses Artikels ein Thema waren, wurden auf der Bühne in vollem Umfang ausgelebt. Für die Jungen im Publikum war der Abend ein Aufreger. Befragungen coram publico über seelische Befindlichkeiten, gegenseitige Attacken bis hin zu Anschuldigungen und Beschimpfungen – alles, was an Emotionen zum Thema Künstlerfeindschaft möglich ist, wurde dabei durchexerziert. Neben gemeinsam intonierter Musik. „Das kommt mir vor wie in den Encounter-Seminaren, die ich in den 80er Jahren erlebte“, so der O-Ton eines Besuchers, der meinte, dass die dargebotene Eskalationsspirale wie aus dem Bilderbuch gewesen sei.
Und tatsächlich ging es an diesem Abend hauptsächlich darum, wer denn von den beiden künstlerisch Beteiligten denn nun wohl der professionellere „Sherapist“ gewesen sei. Das Publikum, das sich in eine Gruppe von Young- und eine von Formenti-Befürwortern einteilen ließ, bewies dabei jedenfalls Durchhaltevermögen. Erst nach über 3 Stunden trennte man sich mit der zuvor von Young ausgesprochenen Grundstimmung: „I agree to differ“. Youngs geradliniger Fragestil, mit dem sie versucht, Problemen auf den Grund zu gehen und Formentis Sofa-Talks mit anschließendem Musikgenuss stehen sich nicht nur in der Methode, sondern auch in der Auswirkung auf das Publikum diametral gegenüber. Kein Wunder, dass Friktionen nicht ausblieben.
Die von Young verwendeten Requisiten, Kinderzeichnungen und der schon erwähnte Krims-Krams-Laden, vollgefüllt mit Strass-Schmuck und kleinem Nippes, konnten als Hinweis auf einen universellen, kindlichen Erfahrungsschatz gedeutet werden. Einen Schatz, der sich, wie bekannt, im Laufe des Lebens manches Mal auch als Belastung herausstellt. Dabei müssen es keine Traumata im herkömmlichen Sinn sein, die einem das Leben schwermachen. Die eine oder andere Bemerkung von Erwachsenen oder im kindlichen Freundeskreis wird manches Mal ein Leben lang nicht wirklich verdaut und führt zu absonderlichen Handlungsweisen. Young zitierte dafür selbst ein Beispiel aus ihrer Kindheit.
Ihr extremer Exhibitionismus, der auch in einer weder aufregenden, noch notwendigen sexuellen Handlung auf der Bühne mündete, ihre starke Präsenz, die weder Freund noch Feind unberührt lässt, ihr Mut zum Mittelmaß und zum Scheitern, all das ergibt eine außergewöhliche Mischung, die man mag oder auch nicht. Formenti dagegen versuchte mit Verweigerung und seinem pianistischen Können einen adäquaten Gegenpart darzustellen, was ihm auch gelang.
Was konnte man aus dem „2 become 1–Abend“ mit nach Hause nehmen? So viele Menschen bei den Sitzungen gewesen sein mögen – laut brut waren es über 70 bei den Einzelgesprächen – so viele unterschiedliche Meinungen wird es hierzu geben. Der theatralische oder performative Ansatz von Ann Liv Young ist nur insofern neu, als er versucht, das Gespräch zugleich als Therapiestunde zu nutzen. Gesprächsmodi, die in eine scheinbar unverfängliche Alltagsszenerie eingebettet sind, aber künstlerisch determiniert werden, gibt es schon länger. Erweiternd könnte man feststellen, dass nicht nur, wie weiland Joseph Beuys es postulierte, jeder Mensch ein Künstler ist, sondern auch jede Situation in der er sich befindet eine künstlerische. Vor allem, wenn er sich in Therapiesitzungen befindet.